Alissa 1 - Die erste Wahrheit
Nutzlos’ Schultern. Wie er befürchtet hatte, konnte er nicht einmal den oberen Rand der Öffnung erreichen, von dem Sims, außer Sichtweite oberhalb des Gitters, ganz zu schweigen.
»Meine Hände«, grollte Nutzlos. »Stell dich auf meine Hände.«
»Was!«
»Ich sitze schon ewig hier, Strell. Stell dich auf meine Hände. Ich werde dich nicht fallen lassen.«
Den Kopf an die Felswand gestützt, blickte Strell auf Nutzlos’ emporgereckte Hände hinab. Nutzlos wollte, dass er sich wie ein Gaukler über seinen Kopf hinausheben ließ. »Seid Ihr sicher?«, fragte er, denn er war nicht sicher, wie stark der Mann nach jahrelanger Gefangenschaft noch sein konnte.
»Ja.«
Strell schluckte und trat erst auf die eine, dann auf die andere erhobene Hand. Lange Finger schlossen sich um seine Füße und hielten sie sicher fest. Nun war er hoch genug, und mit geflüsterten Bitten an den Himmel und die unwandelbaren Sterne tastete Strell mit beiden Händen den Fels oberhalb des Fensters ab, bis er die erste Lücke zwischen zwei Gitterstäben erreichte. Nutzlos ging geschickt unter ihm mit, und sie bewegten sich im Einklang. Bevor Strell auch nur nach dem unsichtbaren Vorsprung tasten konnte, durchfuhr ihn ein glühender Blitz. Wie aus einem Munde schrien er und Nutzlos vor Schmerz auf.
»Ich bitte um Verzeihung«, schallte Nutzlos’ Stimme zu ihm herauf. »Ich bin zu dicht herangekommen.«
Strell überkam eine üble Vorahnung. »Ihr meint, wenn Ihr das Gitter berührt, bekommen wir es beide zu spüren?«
Nutzlos brummte, doch es klang kein bisschen bedauernd. »Offenbar, ja. Also, Strell«, sagte er warnend, »schau nicht nach unten, sonst verlierst du womöglich … die Konzentration.«
»Keine Sorge«, keuchte er, als ihn ein eiskalter Luftschwall traf. Er reckte sich und schob die Hände durch das Gitter, um nach dem Vorsprung zu tasten. Das Summen des Banns, erzürnt und stark, weil Nutzlos ihm so nahe war, fühlte sich beinahe an wie ein solides Hindernis. »Das ist lächerlich«, flüsterte er und sagte dann lauter: »Es ist zu hoch.« Verkrampft lehnte er sich zwischen den Gitterstäben hindurch, um noch höher zu gelangen, und schnappte nach Luft, als Nutzlos seine Position leicht veränderte und ihn offenbar beinahe fallen ließ. Doch dann packten die Hände des Meisters umso fester zu, und er wurde noch ein Stück höher emporgehoben. Er tastete verzweifelt nach dem unsichtbaren Halt für seine Hände, und seine forschenden Finger fanden den Sims.
»Das ist kein Felsvorsprung«, brummte er, »das ist ein Riss in der Wand!« Doch es würde genügen. Er stemmte sich hinaus an die steile Bergwand und zappelte, bis seine Füße Halt fanden. Er klammerte sich an den Fels und atmete schwer. Der schneidende Wind zerrte an ihm und versuchte, ihn loszureißen. Das Gesicht an den rauen Stein gepresst, blickte Strell nach links. »Ich sehe es«, rief er und begann zu zittern. »Da ist ein Riegel, der das Gitter an der Felswand festhält. Wenn ich ihn bewegen kann, müsste das Gitter einfach herausfallen. Es ist verrostet. Einen Augenblick!« Sorgfältig suchte er sich neuen Halt, bis seine Füße links und rechts des gewaltigen eisernen Riegels standen. Ein Windstoß zerrte an ihm. Strell drückte sich an den eisigen Stein und harrte aus, bis die Attacke nachließ. Als es vorbei war, krallte er die Finger in eine Felsspalte und trat kräftig mit dem Fuß nach der Verankerung des Riegels. Sie bewegte sich nicht und fühlte sich so solide an wie der Fels, an den er sich klammerte.
Er kniff gegen den eisigen Wind die Augen zusammen und spähte nach unten. »Er klemmt!«, rief er. »Könnt Ihr mir Alissas Stab reichen? Ich will versuchen, ihn aufzubrechen.«
Er wartete und fragte sich, ob Nutzlos ihn überhaupt gehört hatte. Bald erschien ein Ende des Stabes neben seinen Füßen. Er verrenkte sich seitlich, um danach zu greifen, doch es war schwierig, weil nur die Spitze über den Sims ragte.
»Nutzlos?«, rief er, nach unten gebeugt. »Wir schaffen es niemals bis zur Ostflanke. Es ist zu kalt. Selbst wenn ich das Gitter öffne, wir sitzen hier fest.«
»Ich versichere dir, dass wir es schaffen werden, Strell«, trieb Nutzlos’ Stimme zu ihm herauf, angespannt vor Aufregung. »Ich kann eine – äh – alternative Transportmöglichkeit arrangieren.«
»Alternative Transportmöglichkeit?«, wiederholte Strell und richtete sich mit einem tiefen Seufzen und dem Stab in der Hand wieder auf. Seine Finger wurden taub,
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