Alissa 1 - Die erste Wahrheit
und die Zehen, die er gegen den eisigen Fels stemmte, spürte er schon nicht mehr. Ganz gleich, was Nutzlos für einen Plan hatte, er wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab, als zu klettern. Vielleicht würde Nutzlos es schaffen. Der Mann war überraschend stark und verfügte über Fähigkeiten, die Strell nicht besaß.
Strell klemmte seine Finger wieder in den Felsspalt und schlug mit dem Stab auf den Riegel zu seinen Füßen. Schweres Holz traf mit einem dumpfen Knall auf Eisen. Große rote Rostflocken lösten sich und wurden von der steifen Brise weggerissen. Das Metall darunter glänzte unbeschädigt.
Er schlug härter zu. Klang. Mehr Rost fiel herab, doch sonst tat sich nichts.
Wieder hob Strell mühsam den Stab und ließ ihn vergeblich auf den Riegel fallen.
Zitternd machte er eine Pause, um sein letztes bisschen Kraft zu sammeln. Der grausame Wind laugte ihn rasch aus. Er trug nadelspitze Schnee- und Eiskristalle mit sich, die auf Strells Haut brannten, wo er noch etwas spürte. Seine Finger und Zehen waren längst taub, und die Kälte kroch an seinen Armen und Beinen empor, die sich schwer und steif anfühlten. Bald würde er den eisigen Wind gar nicht mehr spüren. Strell hob den Blick zum fernen Berggipfel und erkannte, dass er den Riegel bald aufbekommen musste, denn sonst …
»Sonst was?«, seufzte er und presste die Wange an den zerklüfteten Stein. Mit geschlossenen Augen stellte er sich Alissa in der warmen Küche vor, wo sie zufrieden ihre nächste Mahlzeit zubereitete. Sie trug das Haar heute offen, so wie er es mochte, und es war ihr vermutlich im Weg. Allein der Gedanke daran, wie sie fröhlich in der Küche vor sich hin hantierte, erfüllte ihn mit der schmerzlichen Sehnsucht, einfach nur bei ihr zu sein. Er brauchte nichts weiter zu tun, als diesen Riegel zu öffnen, einmal halb um den Berg herumzuklettern und bis dahin nicht zu erfrieren – dann würde alles gut werden.
Strells Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, als er Alissas Stab hob. Unter heftigem Protest seiner Muskeln knallte er ihn auf den Riegel. Wer, dachte er, als der Stab hinabsauste, wer wird dir den Talisman geben, den du so dringend brauchst und der vergessen auf dem Fensterbrett liegt?
Klang!
»Wer«, keuchte er heiser, »wird dich in den Schlaf singen, wenn du keine Ruhe findest?«
Klang!
»Wer wird dich necken, bis du mit dem Fuß aufstampfst?«, schluchzte er, und seine Tränen gefroren unbeachtet auf seiner Wange.
Klang!
»Und wer«, flüsterte er verzweifelt und hob Alissas Stab hoch über den Kopf. »Wer wird dich jemals mehr lieben als ich?«
Mit einem gequälten Aufschrei und aller Kraft, die er aufbringen konnte, stieß er den glatten Stab nach unten. Der Stab zerbrach, und die Bruchstücke bohrten sich in seine Hand. Er spürte es gar nicht, denn der Wind hatte seine Hände bläulich weiß gefroren. Er starrte darauf hinab, auf das leuchtende Rot, das langsam aus seinen Händen sickerte und auf dem Fels gefror.
Wie im Traum sah er das schwere Metallgitter knirschend verrutschen, dann kippte es majestätisch aus seinen Verankerungen und krachte an die Felswand darunter. Ein hallendes Scheppern ertönte beim Aufprall, unter dem der ganze Berg zu erzittern schien. Dann folgte ein gewaltiges Brüllen. Strell klammerte sich an den Fels, als etwas Riesiges durch das geöffnete Gitter hinausschoss. Er verrenkte sich den Nacken, entdeckte es, und ihm blieb der Mund offen stehen. Hoch über ihm flog ein Raku wilde Kreise und drehte sich in der Luft um sich selbst. Gelb schimmerte er in der frühen Nachmittagssonne. Das war der erste, nein, der zweite Raku, den er in seinem Leben sah.
»Nutzlos?«, rief er heiser, den Blick starr auf die Bestie gerichtet. »Wusstet Ihr eigentlich, dass ein Raku mit Euch in der Zelle eingeschlossen war?« Aber natürlich, dachte Strell dann erschrocken, das war es, was er vorhin gesehen hatte. Es waren nicht Nutzlos’ Augen gewesen, die ihm solche Angst eingejagt hatten, sondern die seines Rakus. Es war sogar nachvollziehbar, dass jemand, der Anspruch auf diese Festung erhob, ein solches Tier beherrschen konnte.
»Nutzlos?«, rief er ein wenig ängstlich. »Euer Raku ist los. Kommt und ruft ihn zurück!« Denn jetzt fixierte ihn die Bestie mit einem hungrigen Blick. Strell fragte sich, ob der Mann da unten noch am Leben war. Vielleicht hatte sein Haustier beim Anblick der ersehnten Freiheit seinen eigenen Herrn angegriffen. Nun, dachte Strell, er hatte nicht vor, hier
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