Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Alissa hielt den Atem an. »Sie ist meine Schülerin.« Er trat dicht an Lodesh heran, und seine nächsten Worte waren kaum mehr als ein Hauch. »Respektiert in Zukunft meine Autorität in dieser Angelegenheit.«
Lodeshs grüne Augen waren ausdruckslos. »Selbstverständlich, Meister Talo-Toecan.«
Nutzlos brummte unwillig. Er wandte sich ab, atmete tief ein und straffte dann die Schultern, als wollte er die Sache hinter sich lassen. »Ich bringe euch beide durch die Luft hier hinaus«, erklärte er leise. »Ich werde den Bann auf dem Osttor nicht entfernen. Ihr beiden werdet nicht wieder hier herunterkommen. Und falls ihr es doch tut, werdet ihr ohne meine Hilfe nicht mehr hinauskommen. Habt ihr das verstanden?«
»Luft?«, flüsterte Lodesh mit schwacher Stimme. »Äh, Talo-Toecan? Ich gebe gern zu, dass Ihr ein guter Flieger seid, und die größte und stärkste Bestie, die der Himmel je gesehen hat, aber selbst einzeln wären wir beide zu schwer, als dass Ihr uns tragen könntet.«
Nutzlos zog die Augenbrauen hoch und musterte Lodesh. »Bei dem Pfeifer habe ich es auch geschafft«, sagte er schließlich. »Und ich werde viel Schwung aufnehmen, ehe ich Euch fange.«
»F-fangen?«, stotterte Lodesh.
Alissa hob den reuevoll niedergeschlagenen Blick vom Boden und war entsetzt, als sie sah, wie bleich Lodesh war. Vor ihren Augen wurde der sonst so selbstsichere Mann kalkweiß und trat einen Schritt zurück. »Äh … danke, Talo-Toecan, aber ich werde auf demselben Weg hinausgehen, auf dem ich auch hereingekommen bin.«
Nutzlos wandte sich ihm mit einem boshaft belustigten Funkeln in den Augen zu. »Wie denn?«, fragte er barsch. »Ihr kommt nicht durch das Gitter. Richtig?« Der Meister beugte sich vor und starrte Lodesh an, als würde er ihn schlagen, falls der Vogt ihm widersprach.
Lodesh warf dem Rand der steil abfallenden Klippe einen verzweifelten Blick zu. »Äh, ja. Richtig.«
Nutzlos trat zurück und zupfte seine Schärpe zurecht. »So ist es. Ihr beide werdet durch die Luft hinausgelangen.«
Lodesh warf einen verstohlenen Blick hinter sich. »Wenn Ihr jemanden bestrafen wollt, dann bestraft mich. Aber tut das Alissa nicht an. Sie ist doch noch ein Kind.«
»Das bin ich nicht!«, sagte sie laut.
»Es gibt keinen anderen Weg«, lautete Nutzlos’ entschiedenes Urteil, und Lodesh wand sich. »Ich werde Alissa zuerst mitnehmen, wie es sich für eine Dame gehört, denn für eine solche hält sie sich offensichtlich.«
»Alissa«, entschuldigte sich Lodesh. Seine Hände, die ihre ergriffen, verkrampften sich ängstlich. »Es tut mir aufrichtig leid. Ich hatte nicht erwartet, dass er so wütend werden würde.«
Alissa starrte ihn verwundert an. »Wie bitte?«
»Er wird Euch durch die Luft transportieren …«
»Na und?«
»Spring«, sagte Nutzlos.
Alissa blinzelte. »Wie war das, bitte?«
»Spring«, wiederholte er.
Ihr Blick huschte zur Kante. Im hellen Licht der Nachmittagssonne leuchteten weiß die Wolken, die sie von hier aus sehen konnte, dicke Wattewolken, die so klein wie Schafe zwischen ihr und dem unsichtbaren Boden hingen. Erst jetzt begriff sie. Sie wich einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ich habe keine Zeit für diesen Unsinn«, knurrte Nutzlos, packte sie wortlos, hob sie hoch und warf sie mit wirbelnden Röcken und wild um sich tretenden Füßen über den Rand.
Alissas Magen sackte ab. Sie versuchte zu schreien, doch die Wucht des feuchten Windes in ihrem Gesicht machte es ihr unmöglich. Ihre Ohren schmerzten, und zum ersten Mal war sie dankbar dafür, dass ihr verflixtes langes Haar ihr in die Augen fiel. Sie konnte nichts sehen. Nutzlos, dachte sie panisch, er kommt, er wird mich auffangen. An diesem dünnen Faden hing ihre geistige Gesundheit, doch er kam nicht, und als sie schon zu glauben begann, dass er in seiner Wut beschlossen hatte, sie sterben zu lassen, durchlief sie ein furchtbarer Ruck. Jetzt schrie sie, denn ihr Schreck ließ gar keine andere Reaktion zu. Der Wind blies ihr das Haar aus dem Gesicht. Als sie sah, wie knapp vor dem Boden er sie aufgefangen hatte, kreischte sie erneut.
Die Baumwipfel befanden sich gerade noch eine Flügelspanne unter ihr.
Nutzlos schlug heftig mit den Schwingen und gewann rasch an Höhe, und in ihren Ohren knackte es. Er begann grauenvoll zu schwanken und zu kurven, wie der schlimmste Säufer am schönsten Markttag. Alissa drehte es den Magen um. Als die Feste unter ihnen auftauchte, fiel er wie ein Stein,
Weitere Kostenlose Bücher