Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Talisman und verknotete es, so dass es locker um ihren Hals hing. Das goldene Schmuckstück kam über dem Beutelchen voll Staub, das sie sorgsam verbarg, auf ihrer Brust zu liegen. Alissa lächelte, als sie den Talisman vor dem dunkelblauen Stoff ihres Kleides leuchten sah. »Danke schön«, flüsterte sie, streckte die Hand aus und berührte einen Moment lang seine Schulter. »Er gefällt mir sehr.«
»Schön«, sagte er und kniete sich hin, um überflüssigerweise erneut das Feuer zu schüren.
In dem herrlich zufriedenen Gefühl, dass mit der Welt alles zum Besten stand, lehnte sich Alissa zurück und sah den Flammen zu. Sie spürte, wie ihr Atem sich verlangsamte, während sie sich in der neuen Wärme der frisch geschürten Glut entspannte. Strell kehrte zu seinem Sessel zurück, und sie saßen in geselligem Schweigen beisammen, bis sie einnickte und erschrocken den Kopf hochriss. Sie blinzelte schläfrig und sah nach, ob Strell es bemerkt hatte. Seine Augen waren geschlossen, seine Atemzüge langsam. Beim Ausatmen flatterte eine Strähne seines lockigen Haars vor seinem Gesicht, und sie kämpfte gegen den Drang an, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen.
»Eingeschlafen«, murmelte sie, kaum überrascht. Sie stand auf und zog ihr Schultertuch fester um sich. Es sah ganz so aus, als würde Nutzlos doch nicht kommen. Enttäuscht trat sie an ihr Fenster und stieß die Läden auf. Sie quietschten laut, und sie blickte sich nach Strell um, der jedoch nur umso friedlicher zu schlafen schien. Kralle hingegen plusterte sich in der plötzlichen Kälte mürrisch auf.
Alissa beugte sich halb aus dem Fenster, atmete tief ein und genoss die Kälte, die in ihrer Lunge brannte, nur deshalb, weil das Feuer so nah war. Der Vollmond auf dem Schnee sorgte für eine helle Nacht, und die wenigen Sterne wirkten winzig. Ihr Fenster war das einzige in der gesamten Feste, das nicht mit einem Bann vor der Kälte geschützt war. Sie hatte den Zauber sowohl auf ihrem als auch auf Strells Fenster gebrochen, als sie den Bann entfernt hatte, den Nutzlos zwischen ihr und ihrer Quelle errichtet hatte. Dieser Bann hatte ihrem Schutz gedient, doch sie hatte sich geärgert, weil Nutzlos es wagte, so etwas mit ihr zu machen, und deshalb versucht, den Bann abzuziehen. Dieser Versuch hatte nicht nur die Fensterbanne zerstört, sondern auch ihren Geist. Die unkontrolliert freigesetzte Energie war durch ihren Geist gefegt und hatte ihre Pfade so stark verbrannt, dass Alissa zunächst geglaubt hatte, sie seien nur noch unbrauchbare Schlacke. Doch sie waren verheilt. Bald danach hatten sie und Strell diese Fensterläden angebracht. Bailic hatte Strells Bann wiederhergestellt, doch ihn zu bitten, das auch in Alissas Zimmer zu tun, wäre dumm gewesen.
Ein Windstoß blies ihr das Haar aus dem Gesicht, und sie riss den Kopf hoch. Sie kniff gegen den scharfen Luftzug die Augen zusammen und sah den Furcht erregenden Schatten eines Rakus wie einen Geist hinter dem Turm hervorschweben – ledrige Schwingen, schwarze Umrisse und scharfe Zähne. Ehrfurchtsvoll sah sie zu, wie der Raku, so groß wie ein Haus, vor dem Vollmond wendete und den Turm umkreiste.
Kralle schoss über ihren Kopf hinweg nach draußen. »Kralle, nein!«, rief sie. Sie fuhr zum Feuer herum. »Strell, wach auf! Kralle wird sich noch umbringen!« Doch Strell rührte sich nicht. Alissa wusste nicht, ob sie ihn wachrütteln oder eher zusehen sollte, wie ihr Vogel starb, und blieb wie erstarrt am Fenster stehen, als Kralle auf den Raku hinabstieß. Ein mit grausamen Klauen bewehrtes Hinterbein streckte sich langsam und schwarz im Mondlicht. Kralle gab ein erschrockenes Kreischen von sich und fiel. Nutzlos verfolgte sie mit kaum hörbarem Grollen. Alissa stockte der Atem. Kralle. Er würde Kralle fressen!
Komm zurück! ,dachte sie und hätte beinahe verzweifelt aufgeschrien, doch sie konnte nichts tun. Plötzlich verlagerte der Vogel das Gewicht, schoss schräg in die Höhe, und der Raku bekam nur Luft zu packen. Nutzlos war zu riesig, um mit Kralles blitzschnellen Flugmanövern mitzuhalten, doch letztlich war es nur eine Frage der Zeit.
Alissa schlug die Hand vor den Mund, als der Raku eine Wendung nach links antäuschte und seinen Schwanz – bei den Wolfen, der Schwanz war so lang wie der ganze restliche Körper – in Kralles Flugbahn schleuderte. Der Vogel prallte dagegen und fiel direkt in eine wartend ausgestreckte Klaue. Dann stürzten die beiden zusammen hinab in den Wald hinter der
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