Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Niemand«, sagte er drohend, »geht irgendwohin.«
Der Mann stieß einen überraschten Pfiff aus und wirbelte auf dem Absatz herum. Ein Ausdruck, der an Erstaunen erinnerte, lag in seinen Augen. Talo-Toecan blickte auf, als bemerke er Bailic erst jetzt. »Das Buch ist offen«, verkündete er. »Die Vereinbarung ist abgelaufen.«
Abgelaufen!, dachte Bailic entsetzt und bemühte sich, seine Angst beiseitezudrängen. Das hatte er vergessen, aber er hatte immer noch das Buch. Talo-Toecan hätte ihn bereits getötet, wenn er sicher wäre, dass er dadurch nichts zu verlieren hatte. Das Spiel war noch nicht vorbei, und Bailic umklammerte das uralte Buch fester; er war sicher, dass ihn allein dieses Buch noch am Leben hielt. »Wenn Ihr mich tötet, nehme ich Euer kostbares Buch und den Pfeifer mit in den Tod.«
»Glaube dich nur nicht zu sicher, Bailic«, sagte Talo-Toecan kalt. »Ich habe im Augenblick einfach nicht die Zeit, dir die Kehle herauszureißen. Ich bin um des Kindes willen hier. Du warst nie von Bedeutung in dieser Sache.« Talo-Toecan tat ihn mit einem verächtlichen Blick ab und ging zur Tür.
Das musste ein Trick sein!, dachte Bailic hektisch. Er war am Leben und unversehrt. Die Bestie spielte mit ihm. »Halt!«, forderte er. »Sie gehört mir.«
Talo-Toecan fuhr herum. Hass glitzerte in seinen Augen, und als Bailic das erkannte, brach ihm der Schweiß aus. »Lodesh«, sagte der Meister, ohne den Blick von Bailics Augen abzuwenden. »Bringt Alissa hinaus.«
Der elegante Mann nahm Alissas schlaffen Körper mit einer kaum merklichen Verbeugung entgegen. Mit einem letzten Grinsen in Bailics Richtung trat der Mann über die Türschwelle. Das Flüstern seiner Schritte verklang. Draußen stimmten die balzenden Vögel ihren prächtigen Gesang an. Er verhallte unbeachtet, denn Talo-Toecan, der nun die Hände frei hatte, konzentrierte sich vollkommen auf Bailic.
»Der Bann auf meiner Schwelle«, stammelte Bailic, »ist gebrochen?«
»Ja, nicht nur eingerissen, wie er war, als du ihn gefunden hast.« Der Blick des Meisters huschte zu dem Buch in Bailics Händen. »Mit dir befasse ich mich später. Jetzt habe ich zu tun, aber wisse, dass Alissa nicht dir gehört.«
»Doch, sie gehört mir!«
Die Augen des Meisters verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Du missverstehst mich. Ich feilsche nicht mit dir. Ich sage es dir. Sie – gehört – nicht – dir. Der Pfeifer ebenso wenig«, fuhr er fort, »nicht einmal ihr Vogel, den ich übrigens sicher untergebracht habe, damit er sich nicht die Krallen besudelt bei dem Versuch, dir die Augen auszukratzen. Ich bin fertig mit dir – Schüler. Geh und kratze das Moos von der Vordertreppe, als Strafe für deine Verfehlungen.« Talo-Toecan wandte ihm den Rücken zu und starrte über den zerstörten Balkon hinaus in den Frühlingsmorgen.
Abgekanzelt wie ein aufsässiger Schuljunge, stand Bailic da und bebte vor Wut. Schüler, schäumte er innerlich. Die Vordertreppe sauber kratzen. Talo-Toecan betrachtete seine ehrgeizigen Pläne als nicht mehr denn einen Schülerstreich. »Ihr mögt mit mir fertig sein, geflügelter Dämon«, fauchte er und packte sein Buch mit aller Kraft, »aber ich bin noch lange nicht fertig. Hört Ihr das, Bestie? Ich bin noch nicht fertig!«
»Hinaus«, knurrte Talo-Toecan, ohne sich umzudrehen.
Bailic ging. Er taumelte durch den Matsch des Frühlings gen Osten nach Ese’ Nawoer und verfluchte den Schlamm, der seine Füße hinabzog, verfluchte die Sonne, die seine Haut verbrannte, verfluchte die Tatsache, dass er kein Pferd hatte, aber vor allem verfluchte er dieses Hurenkind von einer Hochländerin. Das Buch war eine unhandliche Last und an sich schon schwer, aber umso unangenehmer zu tragen, weil er es offen hielt. Es zu schließen hätte seinen Tod bedeutet; dann wäre der schützende Einfluss des Buches beendet. Doch sein Zorn verlieh ihm Kraft, und erst als er die kühlen, schattigen Straßen Ese’ Nawoers erreichte, ging er langsamer. Seine schleppenden Schritte brachen mit einem schockierten Zischen ab, als er bemerkte, was am Rande seines Bewusstseins herumstrich.
Sie waren hier, dachte er, und Erregung durchfuhr ihn. Die Seelen von Ese’ Nawoer. Und sie warteten auf Führung; er konnte es spüren. Wie den Duft von durch Sand gefahrenen Blitzen nach einem Sturm in der Wüste, so konnte er sie spüren, und ihre Schuld und Verzweiflung füllten die Risse in seinem Hass, bis er wieder erstarkt war.
Bailics Lachen hallte von den
Weitere Kostenlose Bücher