Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
der Angreifer ein wenig zurück. Einen Moment lang war alles still. Ein Schauer ließ sie erbeben, und ihr Kopf neigte sich der Erde entgegen. Er hatte sie mit Zweifeln gefangen, so fest an den Boden gebunden, als sei sie selbst aus schwerer Erde. »Bitte« , flehte sie leise, verzweifelt, von allen gehört außer dem, der sie quälte. »Das muss aufhören. Ich muss frei sein, um am Leben zu ble i ben. Ich lasse mich nicht zu etwas zwingen.« Ihre Flügel klappten zusammen, und das strahlende Gold ihrer Haut verblasste, bis sie beinahe grau aussah. Sie würde eher sterben, als sich von anderen beherrschen zu lassen.
Ein Ausdruck des Entsetzens breitete sich auf dem Gesicht des Musikanten aus. »Bei den Wölfen des Navigators«, flüsterte er. »Was habe ich getan?« Er trat einen zögerlichen Schritt vorwärts, dann noch einen, und hob die Hand. Sanft berührte er ihre Schulter, und ein Schauer überlief sie beide. »Alissa, es tut mir leid«, sagte er heiser. Beinahe schluchzend rang er nach Luft und blickte in den gleichgültigen Himmel auf. »Sieh nur, was ich dir angetan habe!«, rief er.
Sie sank noch weiter zusammen, bis ihr Kopf beinahe den Boden berührte, und wünschte sich nichts als den Tod.
»Hör mir zu«, flehte er. »Bitte. Du gehörst auf die Feste. Das ist mir jetzt klarer denn je, aber es muss deine eigene Entscheidung sein, keine aufgezwungene. Ich könnte dir niemals im Weg stehen, obwohl ich nicht ohne dich …« Seine Stimme brach, und er holte zittrig Luft. »Nein«, flüsterte er, an sich selbst gewandt, »das darf ich nicht sagen. Deine Freiheit ist wichtiger.«
Bei dem Wort »Freiheit« erbebte sie unter einem heftigen Schaudern. Der Alte und Todes Bruder wechselten quer über die Lichtung hinweg einen Blick. »Pfeifer«, warnte der Blasse, »was tut Ihr da?«
»Seht Ihr denn nicht, dass sie eher sterben wird, als sich zu etwas zwingen zu lassen, wofür sie sich nicht selbst entschieden hat?«, schrie er.
Der Alte und derjenige, der den Tod in sich trug, sahen einander nervös an. Sie konnten nichts tun und waren der fragwürdigen Gnade dessen ausgeliefert, der Musik machte. Sobald sie sich bewegten, würde sie davonfliegen. Derjenige, der am schwächsten erschienen war, war der Stärkste, und wo seine Loyalität lag, war nicht mehr eindeutig. Sie wartete, und ein Hauch von Hoffnung spannte ihre Muskeln an.
Zärtlich strich er mit der Hand über ihre ergrauende Haut. »Alissa«, sagte er mit schmerzerstickter Stimme. »Ich wünsche mir nichts mehr, als dich hierzubehalten, damit du für immer an meiner Seite bist. Seit wir uns in dieser Schlucht begegnet sind, war ich nur glücklich, wenn du in meiner Nähe warst. Aber sieh dich nur an!«, rief er aus. »Du brauchst mich nicht. Du bist der Wind und die Berge selbst!«
»Pfeifer!«, brüllte Todes Bruder. »Was tut Ihr?«
Sie erbebte und sah ihre Freiheit schon in Reichweite.
Der Mann schloss die Augen, und seine Qual stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich habe kein Recht, Anspruch auf dich zu erheben«, stöhnte er. »Niemand hat das. Ich muss …« Seine Stimme versagte, seine Hände ballten sich zu Fäusten, und sein Atem war ein raues Keuchen. »Ach, bei den Wölfen«, flüsterte er heiser. »Alissa, ich gebe dich frei.«
Der Alte leugnete diese Worte mit einem donnernden Gebrüll und übertönte damit den verzweifelten Aufschrei des Blassen. Sie waren besiegt. Sie konnten nichts mehr tun. Sie spannte sich zum Sprung in die Freiheit, doch plötzlich verließ sie alle Kraft, abgezogen von etwas, das stärker war als ihr Drang, zu fliegen. »Nein!« , schrie sie, ohne zu wissen, warum, und streckte sich zugleich nach dem Himmel. »Ich muss mich von der Bestie befreien!«
Tränen des Verlusts und der Trauer liefen Strell unbemerkt über die Wangen, als er sich abwandte, weil er ihren verzweifelten Schrei nicht mehr ertrug. »Es ist deine Entscheidung«, flüsterte er. »Ich werde dich nicht zwingen, einen Weg zu wählen, den du nicht gehen willst. Du sollst nur wissen, dass ich dich liebe … und dich immer geliebt habe.« Er wirkte wie gebrochen, als er sich nach seiner Flöte bückte und langsam davonging, mit hängendem Kopf und schwer belastet von dem, was er getan hatte.
»Strell!« , schrie sie, als ihre Träume mit zerschmetternder Wucht wieder zur Wirklichkeit wurden. »Verlass mich nicht. Ich liebe dich!«
Mit erstaunt aufgerissenen Augen wirbelte Strell herum und sah sie ein letztes Mal sehnsüchtig nach dem Himmel
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