Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
hervorriefen – Bilder von friedlichen Abenden an einem Feuer mit jemandem, den sie mehr brauchte als die Luft zum Atmen. Das konnte nicht sein! , beharrte sie. Sie brauchte kein Feuer außer der Sonne, keinen Gefährten außer dem Wind. Sie musste fliehen. Sie musste fliegen. Um am Leben zu bleiben, musste sie sofort entkommen!
»Rasch, Pfeifer. Etwas anderes«, flüsterte Todes Bruder.
»Alissa«, rief er verzweifelt, »erinnerst du dich an dein Zuhause, an deine Mutter? Der Rauch ihres verbrannten Essens hat die Decke geschwärzt, doch ihr Lächeln war so rein und aufrichtig wie der Regen. Ich habe sie kennen gelernt, bevor ich dich traf. Du bist so stark wie deine Mutter, Alissa.«
Träume, stöhnte sie und warf verzweifelt den Kopf hin und her. Woher wusste er von ihren Träumen?
Das vermeintlich schwächste Glied in der Kette ihrer Angreifer sah ihre Unentschlossenheit und rief: »Von ihr habe ich meine Karte mit dem Weg zur Feste bekommen!«
»Das ist meine Karte!« , schrie sie gequält auf.
Der Alte fuhr zusammen. In verdächtig selbstsicherer Haltung warf er Todes Bruder einen Blick zu. »Ich habe sie auch gehört, alter Freund«, murmelte das Gespenst erstaunt, dann sagte es: »Es funktioniert, Strell. Ihre Gedanken werden klarer.«
Der unbedeutend scheinende Mann trat näher. »Und unser Streit über Kralles Unterschlupf?«
»Das war ein Traum« , jaulte sie und verschloss die Augen vor dem Schmerz. Ein schreckliches Gefühl überkam sie, als sehe sie alles doppelt, und es war umso schlimmer, weil sie gar nichts sah.
»Es hatte drei Tage lang geregnet«, fuhr der Quälgeist sanft fort, »und du hattest deine Stiefel nicht gefettet, sie waren ganz durchweicht. Kralle hat diesen Felsüberhang gefunden.« Er schüttelte den Kopf. »Nie werde ich den Ausdruck auf deinem Gesicht vergessen, als du dich hingesetzt und geweigert hast, dich von der Stelle zu rühren. Ich war so zornig, nun, eher besorgt, dass der Regen in Schnee übergehen würde. Aber du hattest recht. Wir brauchten beide eine Rast.«
»Lass mich gehen« , bettelte sie. »Ich werde für den Himmel verloren sein, wenn du nicht aufhörst!« Doch entweder hörte er sie nicht, oder es war ihm gleichgültig. Sie ließ ihren Schwanz in großen Bögen durch die Luft peitschen, riss dabei eine Menge Büsche und Bäumchen aus, und der scharfe Geruch ihrer frischen Säfte verbreitete sich über die Lichtung. Sie wurde hier festgehalten von seinen Worten, von ihrem Bedürfnis, zu wissen, ob all das wahr sein mochte. Der Alte regte sich unbehaglich. Anscheinend konnte er ihr Flehen hören, doch er hielt stand und ließ sie nicht vorbei.
»Und der Sessel, Alissa«, sagte der Mann, aus dessen Blick nun vergangene Qualen sprachen. »Erinnerst du dich an meinen Sessel? Ich habe ihn nicht von deinem Kamin weggeräumt. Ich dachte, du hättest ihn in mein Zimmer gestoßen, um mir damit zu sagen, dass ich dich in Ruhe lassen soll.«
»Nein!« , rief sie gefühlvoll und hob den Blick der Sonne entgegen. »Ich dachte, du hättest ihn wegg e räumt!«
»Vorsicht, Pfeifer«, warnte Todes Bruder. »Sie schwankt auf dem Grat.«
Der unnachgiebige Mensch trat näher. »Du musst zu mir zurückkommen, Alissa«, erklärte er bestimmt. »Von wem soll ich sonst Brotteig stibitzen, wenn du mich verlässt?«
»Ich kann nicht. Ich bin … Ich muss frei sein!« Es war ein jämmerlicher Schrei, und der Alte verzog das Gesicht. Selbst Todes Bruder schien schmerzlich berührt.
»Und unsere Abende?«, fuhr der Mann erbarmungslos fort, wobei er die ganze Zeit über lächelte. »Ich habe mich in meinen Künsten geübt und du in deinen.«
Sie knirschte und schnappte mit den Zähnen und warf den Kopf in einem großen Bogen herum. »Ich gehe nicht zurück. Du kannst mich nicht dazu zwingen« , behauptete sie, doch sie brachte es nicht über sich, ihn zu zerschmettern.
»Bitte«, drängte der Mann, der sich offenbar schon für den Sieger hielt. »Du musst doch wissen, dass ich es war, der dich jede Nacht wieder in den Schlaf gelullt hat, wenn du dich in den Träumen eines anderen von Einsamkeit und Suche unruhig herumgeworfen hast.«
»Ich lasse mich nicht zwingen« , schrie sie und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich bin …« Sie schlug mit dem Schwanz aus, eine krumme Fichte dicht neben dem Pfeifer zersprang, und dicke Holzsplitter flogen durch die Luft. »Ich will nicht!« , kreischte sie stumm in den Himmel.
Verblüfft von dieser Demonstration ihrer Kraft, wich
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