Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Stich verlegener Reue. Das war sein Blut an ihren Klauen. »Also, das« , sagte er kichernd, »würde albern aussehen. Ein Raku in Rock und Hut.«
»Nein, würde es nicht« , dachte sie und krümmte sich zusammen, um ihr Gesicht unter ihrem Schwanz zu verbergen.
Nutzlos musterte den Himmel. »Du wirst dich daran gewöhnen« , drang sein leichter Gedanke zu ihr, »doch um deine Frage zu beantworten, du hast deine Kleidung und alles andere, was du am Körper trugst, in seine ei n zelnen Atome zerlegt und diese deiner neuen, beträch t lich gewachsenen Masse hinzugefügt.«
Offensichtlich war ihm ihre Verlegenheit völlig gleichgültig, und Alissa hob den Kopf über ihren Schwanz. Sie verstand zwar nicht, was ein Atom sein sollte, doch sie wusste ohne jeden Zweifel, dass sie keinen Faden mehr am Leib trug. »Woher ist dann der Rest meiner Masse gekommen?« , fragte sie und dachte an die vielen langen Vormittage des Nähens, die nun vergeudet waren. Asche, sogar ihr brandneuer Hut war verloren.
»Aus deiner Quelle« , antwortete er schlicht. »Sie ve r hält sich wie ein Schwamm und absorbiert Energie oder Masse oder setzt sie wieder frei, wie es eben nötig ist.«
Alissa wollte ihn um eine weitere Erklärung bitten, doch sie hörte ein Flattern, drehte sich um und sah Kralle auf dem Wipfel einer nahen Tanne landen. »Kralle!«, rief sie laut, doch es drang nur ein tiefes Brummen aus ihrer Kehle. Alissa fuhr überrascht zurück, doch Kralle erkannte es, oder sie, und verließ ihren schwankenden Sitzplatz. Der winzige Vogel schwebte schimpfend in der Luft, bis Alissa einen langen Klauenfinger zum Landen ausstreckte.
»Wenige Augenblicke, nachdem Strell und der Stad t vogt gegangen waren, ist sie hier aufgetaucht« , erzählte Nutzlos, während Alissa ihren Vogel vorsichtig am Kopf kraulte. »Sie wusste sofort, dass dies du bist. Ich dachte, sie würde den ganzen Tag brauchen, um sich aus der Falle zu befreien, die ich für sie gebaut hatte.« Seine Augen wurden schmal, als er Alissas zärtliches Brummeln hörte. »Doch anscheinend ist sie so schlau, wie ihre Herrin manchmal zu sein scheint.«
»Was für eine wunderbare kleine Maus« , lobte Alissa Kralle und ignorierte seinen entnervten Blick. »Nur zu, iss sie. Ich habe keinen Hunger.« In Wahrheit war sie furchtbar hungrig. Dieses süße Brötchen zum Frühstück war alles, was sie heute gegessen hatte. »Und wie klug du bist, dass du mich erkannt hast« , fügte sie liebevoll hinzu und warf das tote Tierchen in die Luft. Kralle konnte sie zwar nicht hören, doch die Gesten waren ihr vertraut, und der kleine Vogel schien zu wissen, dass Alissa die dargebotene Beute gewürdigt und abgelehnt hatte. Blitzschnell schnappte Kralle zu und ließ sich auf einem zersplitterten Baumstumpf nieder, um ihre Beute zu verzehren.
Alissa schluckte schwer, als sie das Reißen und Knacken vernahm. Der Geruch der toten Maus blieb ihr in der Kehle stecken. Ihr wurde ein wenig übel, und sie wandte sich ab. »Wie verwandle ich mich wieder zurück?« , fragte sie schwächlich.
»Wir waren nicht vorbereitet, Kind« , erwiderte Nutzlos sanft. »Es wird beinahe ein Jahrzehnt dauern, bis du dich gut genug an deine erste Gestalt erinnerst, außer, du hättest einen Zahn oder einen Nagel von früher, der den Prozess beschleunigen könnte.«
»Nutzlos?« Sie verzog das Gesicht und drückte eine Hand auf ihre Mitte, als diese wunderbare Neuigkeit zu ihr durchdrang. »Ich fühle mich nicht besonders gut.«
Seine Augen weiteten sich. »Atme tief durch, Alissa. Du siehst ganz grau aus.«
Alissa richtete den Blick auf den Boden. Sie konnte Kralles Abendessen immer noch riechen, und das verschlimmerte ihre Übelkeit. Die Essgewohnheiten ihres Vogels hinzunehmen war ihr immer schwergefallen, doch nun, da ihr Geruchssinn so geschärft war, wurde es beinahe unerträglich für sie. »Oh nein!«, rief sie und spürte, wie sie aschfahl wurde. »Nutzlos, ich muss mich –«
Der Rest ihrer Gedanken kam nicht mehr durch, denn sie wurde von trockenem Würgen geschüttelt – als wäre alles nicht ohnehin schon schlimm genug. Nutzlos wartete geduldig und so gelassen wie möglich, bis sie sich wieder im Griff hatte. Den Tränen nahe, krümmte sie sich zu einem sehr großen Häuflein Elend zusammen. »Nutzlos?« , flüsterte sie in seinen Geist. »Ich will nach Hause.«
Sie hatte dies hier nicht gewollt, nichts davon, und sie wollte ihr altes Leben zurückhaben. Sogar die steinharten Kekse ihrer Mutter
Weitere Kostenlose Bücher