Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
ließ sie ganz langsam die Luft aus ihrer Lunge strömen.
Oh, bei den Hunden, dachte sie, denn nun hatte sie das Gefühl, dass ein kleines, erbarmungsloses Wesen die Rückseiten ihrer Augen mit glühenden Nadeln bearbeitete. Sie hatte recht gehabt; vom Atmen wurde es schlimmer. Furchtsam blickte Alissa in ihren Geist und stellte fest, dass alle ihre Pfade klar und heil waren. Die Kopfschmerzen hatten also irgendeine andere, unbekannte Ursache und würden von allein verschwinden müssen. Sie wimmerte bei der Aussicht auf endlose Qualen, und zu ihrer Überraschung hörte sie Nutzlos’ leise Stimme in ihren Gedanken.
»Was ist denn, junge Schülerin?«
»Mein Kopf tut weh« , klagte sie in seinen Geist. Sie hörte sich an wie ein jammerndes, verzogenes Gör, doch es fühlte sich an, als stecke ihr Schädel in einem Schraubstock, und sie konnte nicht anders. Einen Moment lang wunderte sie sich darüber, dass sie sich wortlos unterhielten, doch dann kam ihr der Gedanke, Nutzlos müsse wohl seine Raku-Gestalt angenommen haben. Ihr war es gleich. Nein, eigentlich war es ihr sogar lieber so, denn sie brauchte nicht zu atmen, um ihm in Gedanken zu antworten.
»Warte«, dachte Nutzlos, und auf ihren Pfaden zeigte sich eine Resonanz. Das Muster war weit verzweigt und entsetzlich kompliziert. Alissa starrte hoffnungslos darauf und versuchte, es sich zu merken, doch das gelang ihr nicht sonderlich gut. Ihr Kopf tat so furchtbar weh. Sie hoffte, dass dies ein Bann gegen ihre Schmerzen sein sollte, und baute die erste Sequenz auf, um ihn auszuprobieren.
»Du hast eine Resonanz gefunden?« , fragte Nutzlos überrascht, dann sagte er hastig: »Nein, lass das. Wenn man nicht genau weiß, was man tut, richtet dieser Bann mehr Schaden als Nutzen an. Am besten wartest du d a mit, bis ich Zeit habe, ihn dir zu erklären. «
Sein Feld umschloss sie, angenehm warm wie eine schlammige, von der Sonne erhitzte Pfütze. Das köstliche Gefühl strudelte und floss durch sie hindurch und hinterließ ein schwaches Kitzeln, wo einst Schmerz gewesen war. Dessen Abwesenheit war ein Segen, und als sie spürte, wie sich ihre Muskeln lockerten, schmolz sie förmlich dahin. »Ah« , seufzte sie dankbar in seinen Geist hinein. »Danke, Nutzlos. Was war das?«
»Das war ein Heilungsbann. Hast du das denn nicht gemerkt?«
»Doch, natürlich« , murmelte sie und wäre beinahe wieder eingeschlafen. Zum ersten Mal seit Monaten, so schien es ihr, war sie wirklich zufrieden und hatte es behaglich und warm. Doch irgendetwas nagte an ihr. Sie bekam es nicht genau zu fassen, oder sollte sie vielmehr sagen, zu riechen? Einfach ausgedrückt, roch sie nämlich alles. Da war der klebrige Duft von Kiefernharz, das trockene Beißen von zerbrochenem Stein, der bittere Geruch tauender Erde. Die Brise, die über sie hinwegstrich, war kühl und kündigte für morgen Regen an. Sie roch Kräuter und Gräser, die frisch aus der Erde sprossen, und über alledem lag der unverkennbare Gestank von – Aas.
Kralle! , dachte sie und riss die Augen auf. Tatsächlich, wenige Schritte vor ihr lag der übel zugerichtete, traurige kleine Kadaver einer Feldmaus mit gebrochenem Genick. Alissa blickte sich vorsichtig nach der großen Jägerin um, achtete aber darauf, sich nicht zu bewegen, damit die Kopfschmerzen nicht zurückkehrten.
Sie befand sich draußen, was verwunderlich war, und sie konnte sich nicht erinnern, warum. Es war später Nachmittag; sie musste den ganzen Vormittag verschlafen haben. Aus irgendeinem Grund lag sie zwischen den Vorderfüßen ihres Lehrmeisters, denn da waren sie, eine mit starken Krallen bewehrte Klaue rechts, eine links.
Diese Kopfschmerzen hatten wohl ihre Sehfähigkeit beeinträchtigt, denn es fiel ihr sehr schwer, ihre Umgebung deutlich zu erkennen. Alles, was weniger als eine Armeslänge von ihr entfernt war, war eine verschwommene Masse. Weiter weg jedoch sah sie alles kristallklar. Farben kamen ihr tiefer, irgendwie lebhafter vor als sonst, und es schien auch mehr davon zu geben. Der Himmel über den schwankenden Kiefernzweigen war nicht einfach nur blau, sondern schimmerte in hunderten verschiedener Blautöne, und die Schattierungen waberten und trieben dahin wie Nebel.
Sie hörte auch nicht richtig. Höhere Laute klangen gedämpft und verschwommen, als würde sie sie durch ein Kissen hören. Tiefere Geräusche, die sie nicht einmal erkannte, waren unüberhörbar laut. Alissa blinzelte überrascht, als sie erkannte, dass die dumpfe
Weitere Kostenlose Bücher