Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
du Ketten an deinen Schwingen?«
»Nein.« Sie ließ sich auf – nun ja – ihre Hinterbeine sinken und starrte verdrießlich in den Himmel. Doch es war schwer, zornig zu bleiben, während sie die wandelbaren Luftströme dort oben beobachtete. Sie waren so einladend, dass sie am liebsten aufgesprungen wäre, um wieder auf ihnen zu reiten, um des reinen Vergnügens willen.
»Bitte« , hörte Alissa ein Flehen in ihren Gedanken. »Du hast mir versprochen, dass wir fliegen würden …«
Alissa schüttelte schnaubend den Kopf. Nutzlos beobachtete sie eindringlich, doch er war es nicht, der da gesprochen hatte. Das war sie, aber ein Teil von ihr, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte, weil er tief unter einem Leben in Zivilisation und menschlicher Gesellschaft begraben und verborgen war. »Wer bist du?« , flüsterte Alissa ihren dunkelsten Gedanken zu. Mit sich selbst zu sprechen war schließlich nicht verrückt – außer, man fand etwas, das einem antwortete.
»Hast du mich schon vergessen? Ich bin deine Bestie« , kam die leise Antwort, und Alissa erstarrte, von Panik erfasst. Bei den Wölfen! Die Stimme war da! Sie war verrückt geworden! »Sag nichts« , warnte dieser fremde Gedanke sie hastig, »sonst wird der Alte dich zwingen, mich zu vernichten, und du – du hast mir versprochen, dass du das nicht tun würdest. Erinnerst du dich nicht?«
Mit hämmerndem Herzen blinzelte sie ein paarmal, als müsse sie sich erst darauf besinnen, wo sie war. Sie hatte das alles für einen Traum gehalten. Sie war wild geworden, und dieser neue, verwilderte Zustand hatte eine eigene Identität besessen, die ihr wahres Selbst unterdrückt hatte. Sie hatte einen Pakt mit dieser anderen Identität geschlossen, um die Kontrolle über sich zurückzugewinnen .
Alissas Augen weiteten sich, sie hielt sich ganz still und fürchtete die leiseste Bewegung. Was hatte sie getan? Sie hatte einer Bestie ihr Wort gegeben! Wie konnte sie darauf vertrauen, dass diese nicht wieder die Kontrolle an sich riss? Das Tier könnte lügen!
»Ein Tier kann nicht lügen« , drang ein verwirrter Gedanke zu ihr. »Ich hätte dir längst die Kehle herausgeri s sen, wenn ich das könnte. Du hast mich leben lassen, weil ich etwas besitze, das du nicht hast.«
Alissa schluckte schwer. »Und das wäre?«
»Die Erinnerung an deinen allerersten Flug.«
Sie begriff und sackte zusammen; ihr Herzschlag verlangsamte sich. Die Bestie hatte recht. Alissa würde ihrem wilden Selbst erlauben, als stummer Beobachter weiterzuleben. Dafür würde sie, wenn auch nur für einen Augenblick, das unübertreffliche Gefühl vollkommener Freiheit wieder erleben dürfen. Wenn Alissa ihre wilde Seite zerstört hätte, hätte sie die Erinnerung an ihren ersten, wilden Flug verloren. Das wäre ein herber Verlust, und sie hätte viel von sich selbst aufgegeben.
»Deshalb wirst du mich nicht zerstören« , flüsterte ihre Bestie in ihren Gedanken, und sie hörte sich erleichtert an.
Nervös warf Alissa einen Blick auf Nutzlos.
»Er kann uns nicht hören. Wir unterhalten uns in gr o ßer Tiefe« , murmelte die Bestie, und Alissa spürte, wie sie sich so tief in ihrem Unterbewusstsein niederließ, dass sie beinahe ganz verschwand. »Keine Sorge« , sagte die Bestie gähnend. »Ich werde meine Grenzen nicht überschreiten. Wir haben einen Pakt, und der kommt vor allem anderen.«
»Die Liebe kommt vor allem anderen« , erwiderte Alissa schüchtern.
»Liebe?« Das war eine schläfrig dahingehauchte Frage.
»Ja.« Alissa lächelte, als sie sich an Strells letzte Worte erinnerte. Dann wurde ihr heiß vor Verlegenheit. Strell hatte gesagt, dass er sie liebte. Vor allen Leuten! Und sie hatte das Gleiche getan.
Nutzlos regte sich, räkelte sich in der Sonne. »Hast du etwas gesagt?«
»Nein, gar nichts« , antwortete Alissa angespannt. Sie war sehr erleichtert, dass ihre Bestie anscheinend wieder verschwunden war. Vielleicht sogar für immer. Sie zog eine Grimasse, als sie merkte, dass ihr gesamter Körper sich rosig verfärbt hatte. Sie errötete. »Oh, bei den Hu n den« , stöhnte sie. »Hat diese Gestalt denn gar keine Vo r teile?« Doch dann fiel ihr etwas auf, das ihre Verlegenheit ins Unermessliche steigerte. »Nutzlos!« , rief sie und färbte sich beinahe rot. »Wo sind meine Kleider?«
Nutzlos bebte vor lautlosem Lachen, stand auf und streckte sich wie eine Katze. Er hatte lange, schmerzhaft aussehende Kratzer am Bauch und an den Vorderbeinen. Alissa spürte einen
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