Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Blätter zusätzlich beschwert. Die Pflanze, die einst robust und kräftig war, ist nun dünn und schwach, weil alle ihre Energie in Pracht und Erbauung fließt.
Irgendwann bricht ein Sturm herein, während du nicht da bist, und bei deiner Rückkehr findest du deinen sch ö nen Garten vernichtet, zerstört von deiner eigenen Hand. Die Nachbargärten, die sich selbst überlassen blieben, sind weniger farbenfroh, weniger vielversprechend, doch sie stehen noch, weil Vernachlässigung und schlechtere Bedingungen sie stark gemacht haben.« Nutzlos wandte sich ab, doch sie sah noch das tiefe Bedauern in seinen Augen.
»Ich verstehe« , dachte Alissa demütig, denn sie wusste, dass er von Ese’ Nawoer sprach, nicht von seinem Garten. »Aber muss denn alles Unkraut wuchern dü r fen?«
Nutzlos wandte sich wieder zu ihr um und lächelte sie mit seinen Augen an. »Nein. Das Entscheidende ist, zu wissen, welches Unkraut man herausreißen sollte und warum – und wann.«
»Dann lasst ihn uns töten!« , schrie sie, und zu ihrer Verlegenheit hätten sich ihre Schwingen beinahe wie von selbst ausgebreitet.
Nutzlos schüttelte mit geduldigem Verständnis den Kopf. »Sagen wir einmal, wir wollten ihn vernichten. Wie würdest du das anstellen?«
»Ihn in einem undurchlässigen Feld einschließen« , lautete ihre prompte Antwort.
»Er würde es brechen« , dachte Nutzlos trocken. »Ba i lic ist gefährlich schnell mit seinen Bannen und Feldern. Er besitzt nicht so viel Kraft und Wissen wie ich, doch das, was er kennt, hat er bis ins Kleinste erforscht. Und er lernt sehr schnell.«
»Oh.« Ihre Knie wurden plötzlich schwach, und sie setzte sich wieder.
»Und wenn du so lange brauchst, um dir einen Plan einfallen zu lassen, dann wird er dich ohne jeden Zweifel töten« , sagte er sanft. »Bailic wird nicht ruhig dasitzen, während du dir einen Plan zurechtlegst.«
»Kann ich nicht einfach einen großen Felsen auf ihn fallen lassen?« , schlug sie vor.
»Er würde ihn auf dich zurückschleudern.« Nutzlos kicherte. »Sofern du überhaupt einen Felsbrocken heben könntest, der groß genug ist.«
Bedrückt legte Alissa sich nieder und stützte den langen Kiefer auf ihren Schwanz. »Ich kann ihn also nicht töten, weil ich zu unerfahren bin« , beklagte sie sich.
»So ist es« , bestätigte Nutzlos. »Und ich erwarte von dir, dass du dich im Hintergrund hältst und dich b e nimmst, Mädchen, denn sonst wirst du hierbleiben und alles verpassen.«
Besorgt setzte Alissa sich wieder auf. Kralle flatterte herab und landete auf ihrem Kopf. »Das würdet Ihr nicht tun.«
»Das würde ich ganz gewiss tun – Schülerin.« Er funkelte Kralle an. »Geh fort. Du siehst lächerlich aus da oben« , fuhr er den Vogel an, und Alissa erschrak über seine Ungeduld.
Kralle kreischte empört und sträubte das Gefieder, als Nutzlos sie verscheuchen wollte. Alissa war gezwungen, sie von ihrem Kopf zu pflücken und auf ihre Hand zu setzen, da ihre Schulter nun zu steil war, als dass Kralle darauf Halt gefunden hätte.
Nutzlos starrte sie beide finster an. »Wenn sich das h e rumspricht« , brummte er. »Ein grauäugiger Meister mit einem zahmen Vögelchen!«
Alissa erstarrte in tiefstem Elend. Ihre Augen hatten schon immer Misstrauen und Hohn hervorgerufen und sie sowohl von den Hochländern als auch von den Tiefländern abgesondert. Nun schien es, als könnte sie nicht einmal als Raku richtig aussehen.
»Los jetzt« , dachte Nutzlos barsch. »Gehen wir.«
»Ich will nicht.« Alissa starrte auf den Boden, entsetzlich niedergeschlagen. Kralle war damit beschäftigt, ihr abwechselnd ermunternd zuzuflöten und Nutzlos boshaft anzufunkeln, als wüsste sie, dass dieser der Grund für Alissas Traurigkeit war.
»Ach, bei allem, was Tee ist!« Nutzlos seufzte, als sie immer tiefer in ihrer Trübsal versank. Sie spürte, wie sich eine Träne bildete, hinabrann und hörbar zu ihren Füßen zerplatzte. »Bitte, Alissa« , sagte er zerknirscht. »Ich bitte um Verzeihung. Du bist ein absolut erstklassiger Raku.«
Sie blickte auf und wollte ihm zu gern glauben. »Wir k lich?«
»Ja, wirklich.« Verlegen trat er von einem Vorderbein aufs andere.
»Aber meine Augen …«
»Ja, sie sind nicht golden wie die der meisten Rakus« , gab er zu. »Aber die meines Lehrers waren auch nicht golden, und er war ein sehr angesehener Raku.«
Alissa schniefte, und trotz allem war ihre Neugier geweckt. »Welche Farbe hatten seine Augen?«
»Braun« , lautete die
Weitere Kostenlose Bücher