Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
auch darum bitten würde, ihren Geist untersuchen zu dürfen, doch er wandte sich mit einem befriedigten Brummen ab, offenbar bereit, ihre Antwort zu akzeptieren, da es gar keine andere logische Antwort geben konnte. Im Nachhinein musste das wohl stimmen, denn die Bestie war sie, und sie hatte auch keine frühere Erfahrung mit dem Fliegen gehabt. Das Wissen war immer da gewesen, nur bisher unbrauchbar.
»Und zu welch wunderbaren Dingen man dieses Wi s sen nutzen kann« , flüsterte Bestie, und Alissa lächelte verständnisvoll. Selbst dieser kurze Ausflug war einfach herrlich, und sie musste den Drang unterdrücken, sich kreischend auf Ese’ Nawoer hinabzustürzen. Stattdessen folgte sie brav Nutzlos, der in der warmen, trockenen Luft über der Stadt kreiste und nach Strell und Lodesh suchte.
Die Stadt breitete sich in einem eleganten Muster wohlgeordneter Straßen und Dächer unter ihnen aus. Große Flecken mit Büschen und Bäumen waren über die Stadt verteilt und lockerten den vielen Stein ein wenig auf. Es war offensichtlich, dass der Bau dieser Stadt sorgfältig geplant worden war, und es machte sie traurig, dass eine solche Leistung vergessen in den Bergen lag. Das Gefühl eines bevorstehenden Irgendetwas hing schwer in der abkühlenden Luft, und Alissa erschauerte, so dass sie kurz an Höhe verlor. Peinlich berührt sah sie nach, ob Nutzlos es bemerkt hatte.
Kralle überholte sie. Schnurstracks hielt der Vogel auf die Mitte der längst verlassenen Stadt zu, stürzte sich auf den kahlen Euthymienhain hinab, und Nutzlos und Alissa folgten ihm. Kralle segelte unter die Bäume und verschwand. Alissa hörte Strells überraschtes Grunzen, gefolgt von Bailics ärgerlichem Ausruf.
»Denk daran« , wies Nutzlos sie an, als sie über den Bäumen kreisten. »Du bist nur hier, weil und solange ich es dir erlaube, in der Hoffnung, dass du etwas lernst. Und bitte, so groß die Versuchung auch sein mag, bem ü he dich, ihn nicht zu reizen. «
»Strell?« Alissa blinzelte überrascht, und Nutzlos runzelte die Stirn.
»Nein. Bailic natürlich« , grollte er und ließ sich dann abwärtsgleiten. So langsam, dass er beinahe in der Luft stehen blieb, schlüpfte er geschickt unter den kahlen Ästen hindurch in den hohen, saalartigen Raum unter den Baumkronen, an den sie sich erinnerte. Alissa schluckte, folgte ihm und hoffte nur, dass sie bei dem, was ihnen bevorstand, eine Hilfe sein würde und kein Klotz am Bein.
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A lissa landete neben dem tröstlich wuchtigen Leib ihres Lehrmeisters. Zu ihrer Bestürzung nahm er gleich darauf seine kleinere Gestalt an, blieb mit vor der Brust verschränkten Armen stehen und verschaffte sich stumm einen Überblick über die Situation. Ein scharfer, beinahe metallischer Geruch hing in der Luft, und Alissa atmete bewusst flach, um ihn nicht einzusaugen. Die Sonne hing zwischen dem Horizont und den niedrigsten Zweigen der Euthymien und tauchte alles in ein unheimliches rötliches Licht.
Bailic stand in Rufweite. Er sah sie an, erkannte sie aber nicht, und sein Staunen über einen weiteren Raku überwältigte beinahe seinen Zorn. Alissa fühlte, dass er sie beobachtete und sich fragte, wer sie war und was ihre Anwesenheit bedeuten mochte. Ihr aufgeschlagenes Buch lag in seinen Armen.
Strell trat neben sie und bemühte sich vergeblich, Kralle zu beruhigen. Er schien kaum zu bemerken, dass die kleinen Klauen seine Hand blutig rissen. Neben ihm war Lodesh. Er stand breitbeinig und fest auf dem Moos und wirkte überraschend ernst und entschlossen, doch als er Alissas Blick auffing, veränderte sich seine Haltung wie ein sprunghafter Frühlingswind. Zu ihrer großen Verlegenheit vollführte er eine blumige, anmutige Verbeugung, wobei er Bailic den Rücken zuwandte.
»Oh, meine Teuerste«, sagte er förmlich, und seine Augen blitzten belustigt. »Ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, dass Ihr geneigt seid, meine schöne Stadt heute Abend mit Eurer Gegenwart zu beehren.«
»Guten Abend, Lodesh« , murmelte sie, in seinem Geist allein, und schlug die Augen nieder. Die anderen hatten nur Lodesh gehört – Nutzlos gab ein unhöfliches Schnauben von sich, Bailic starrte sie an, und Strell blickte furchtbar finster drein.
»Darf ich die Gelegenheit ergreifen«, fuhr Lodesh fort, der die Reaktion aller Anwesenden offensichtlich sehr genoss, »Euch zu sagen, dass Euer Flug heute die atemberaubendste Darbietung von Geschick und Anmut war, die ich in meinem Leben
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