Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
sprang mit ausgebreiteten Schwingen in einem mächtigen Satz dorthin, wo er reglos am Boden lag.
Lodesh kniete neben ihm. »Er ist nur betäubt«, sagte er angespannt, als sie landete. »Talo-Toecan hat es wie durch ein Wunder geschafft, sich vor ihn zu werfen und das Schlimmste von ihm abzulenken. Er wird sich wieder erholen, aber ich fürchte, er wird eine Zeitlang schlimme Kopfschmerzen haben.«
»Was ist geschehen?« , fragte sie, und ihre gedankliche Stimme klang barsch vor Sorge und Schuldgefühlen.
Zwei dicht aufeinanderfolgende Explosionen ließen die Luft erzittern. Alissa schnappte nach Luft, fuhr herum und sah, wie Nutzlos über die Lichtung geschleudert wurde. Sie wollte aufspringen, um ihm zu helfen, doch er rappelte sich hoch und kam hinkend zu ihnen herüber.
»Verfluchtes Buch«, schimpfte er und betupfte seine blutende Lippe. »Es war schon immer heikel, aber das hier ist völlig übertrieben.« Er warf einen Blick zurück zu Bailic, der ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte, und ließ sich dann neben Strell auf ein Knie sinken. »Wird er wieder?«, fragte er leise und beobachtete Strells langsame Atemzüge.
Alissa und Lodesh nickten.
»Gut.« Nutzlos erhob sich. Sein Blick wurde hart, als er sich Bailic zuwandte. Lodesh stand ebenfalls auf, und gemeinsam beobachteten sie, wie Bailic sich rückwärts davonschlich. Im Dämmerlicht sah er aus wie der verzerrte Schatten, der er innerlich war. Sie konnten nichts tun, um ihn aufzuhalten. Dem Buch gegenüber waren sie machtlos.
Bailic lehnte den Rücken an einen umgestürzten Baum, dessen dicker Stamm ihn sogar liegend überragte. »Du dummes, närrisches Mädchen«, spie er aus, und sein Blick huschte unstet umher. »Du hast deinen letzten Fehler begangen. Ihr alle!« Bailic blickte zu den noch unsichtbaren Sternen auf und drückte ihr Buch der Ersten Wahrheit mit einer Hand an sich. Mit der anderen fuchtelte er in der Luft herum. »Verlorene Seelen von Ese’ Nawoer«, schrie er ins rote Zwielicht, »ich rufe euch! Erwachet! Ich, Bailic Caldera, einst Bewahrer der Feste, nun Besitzer des Buches der Ersten Wahrheit, befehle euch, aus eurer untoten Ruhe zu erwachen und mir zu dienen!«
Die Sonne, ein angeschwollener Ball flammenden Rots, berührte den Rand der Erde und begann dahinter zu versinken. Ein Zittern breitete sich in der Luft aus, die stickig und drückend wurde. Obgleich sie allein unter den hohen Bäumen standen, fühlte es sich an, als seien sie von tausenden Menschen umgeben, und vielleicht war es auch so. Alissa fürchtete sich. Sie spürte, wie ihre Haut sich spannte und grau verfärbte.
Neben ihr erschauderte Lodesh. Ihre Schwingen zitterten, als sein Gesicht einen ernsten, bekümmerten Ausdruck annahm. Er sah nicht älter aus, strahlte aber nun eine Aura geduldigen Leidens aus, unendlich viel älter, als er zu sein schien. »Alissa«, sagte er, und seine grünen Augen funkelten. »Vergesst uns nicht. Ich weiß , dass Ihr Euch erinnern könnt. Ihr entscheidet darüber, ob wir alle errettet oder verdammt werden.« Kein Hauch seiner sonstigen schelmischen Schmeichelei lag in seiner Stimme oder seinem Blick, und Angst durchfuhr sie. »Erinnert Euch«, sagte er und wandte sich dann Nutzlos zu. »Talo-Toecan?«, begann er müde. »Vergebt mir, ich habe in dieser Angelegenheit keine Wahl.« Er sah aus wie ein unwilliger, aber sehr fähiger Anführer, als er langsam davonging.
»Nutzlos?« , fragte Alissa furchtsam. »Was tut Lodesh denn da? Bailic kann der Stadt nicht befehlen.«
Nutzlos seufzte und straffte entschlossen die Schultern. »Offenbar doch. Ob Bailic es weiß oder nicht, anscheinend kann dein Buch tatsächlich als Pfand dafür angesehen werden, dass er berechtigt ist, in deinem Namen zu handeln. Zu Asche soll er verbrannt sein. Genau das hatte ich befürchtet.«
»Alissa?«, murmelte Strell und öffnete mühsam die Augen.
»Ich bin hier, Strell.« , rief sie und beugte sich über ihn. Seine Hände hoben sich und berührten das, was einmal ihr Gesicht gewesen war. Erschrocken zuckten sie zurück, und er riss die Augen auf.
Nutzlos zog Strell auf die Füße. »Komm mit, Pfeifer. Es ist noch nicht vorbei.«
Alissa schluckte und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Hain zu. Nutzlos’ letzter Schlag hatte Bailic in ein so starkes Feld eingehüllt, dass es als schwaches schwarzes Schimmern sichtbar war, wie mit goldenen Fäden durchzogen. Allein ihr Buch hatte dieses Feld hervorgebracht, und es war absolut undurchdringlich
Weitere Kostenlose Bücher