Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Stimme klang heiser. Er sah, wie ihm sein Triumph entrissen wurde, den er schon zum Greifen nahe geglaubt hatte. Er hatte sich mit seinem eigenen Befehl zum Untergang verdammt.
Das Zwielicht schien sich um Lodesh zu sammeln und verdunkelte seine Gestalt zu einem vagen Schatten. Der schwache Duft nach Äpfeln und Kiefern verflog, völlig verdrängt vom erstickenden Gestank der Verwesung. »Das ist die Herrin des Todes«, jaulte die Bestie in Alissa. Einen Moment lang musste Alissa um Beherrschung kämpfen, als Lodesh den Mantel jener Fähigkeiten anlegte, die er sich während dreier Jahrhunderte in Gesellschaft des Todes angeeignet hatte. Zu Alissas großer Erleichterung verschwamm Nutzlos’ Gestalt und veränderte sich, bis zwei Rakus und ein einsamer Pfeifer die Szene beobachteten.
»Meine Herrin möchte Euch davon abhalten, den Tod ins Tiefland und ins Hochland zu tragen«, sagte Lodesh ruhig und trat näher an Bailic heran. »Da sie verhindert ist, werden mein Volk und ich diese kleine, aber unangenehme Aufgabe für sie übernehmen.«
»Nein!«, befahl Bailic.
»Was Ihr verlangt, ist eine Gräueltat an den Lebenden wie an den Toten.« Lodesh trat noch näher, und seine nächsten Worte waren nur ein Flüstern, doch es war so still, dass sogar Strell es hören konnte. »Den Toten«, wisperte der Stadtvogt, »könnt Ihr kein Leid mehr zufügen, also werdet Ihr Euch ihnen anschließen. Ihr, Bailic Caldera, gefallener Bewahrer der Feste, der Ihr fälschlicherweise von Euch behauptet, das Buch der Ersten Wahrheit sei Euer – Ihr habt verloren.«
»Nein!«, schrie Bailic, als Lodesh mit Leichtigkeit die Barriere aus Bann und Feld durchschritt. Das Buch wehrte zwar starke, gewaltsame Versuche ab, doch offenbar galt der Tod ihm nicht als Bedrohung, und deshalb durfte der Tod straflos eintreten. Er konnte eintreten und selbstverständlich auch wieder gehen.
– 38 –
A ls Lodesh Bailic erreichte, wirbelte ein Rausch unsichtbarer Bewegung um sie herum. Alissa wandte den Kopf hin und her; aus den Augenwinkeln schien sie etwas zu sehen, doch wenn sie sich dorthin wandte, verschwand es in verschwommenen Schatten. Der Verwesungsgeruch wurde stärker und erstickte ihre Sinne unter einer benebelnden Decke aus Pein. Überall um sie herum schwoll das Murmeln zahlloser zorniger Stimmen zu einer gewaltigen Unruhe an. Verängstigt wich sie zurück, bis sie gegen Nutzlos’ mächtigen Körper stieß.
Die Seelen von Ese’ Nawoer waren ganz entschieden wach. Sie wogten und waberten in einem fühlbaren Mahlstrom aus Frustration und Wut um Bailic herum. Die Qualen, die Bailic durch sie über Tiefland und Hochland bringen wollte, waren so grauenhaft, dass allein der Akt, diesen Mann zu zerstören, die Schuld der verlorenen Seelen von Ese’ Nawoer tilgen würde. Ihr Stadtvogt hatte ihnen gezeigt, wie sie Rache nehmen konnten.
»Bei unserem Schöpfer«, flüsterte Strell entsetzt, als Bailics Gestalt verschwamm.
»Nei-i-in!«, kreischte Bailic in schierem Grauen und versuchte zu fliehen. Der schrille Laut brach mit erschreckender Plötzlichkeit ab, und Alissa barg das Gesicht an Nutzlos’ Brust, denn sie konnte es nicht mit ansehen. Er breitete die Schwingen aus, um sie und Strell zu schützen, doch sie konnte noch immer die Grauen erregenden Geräusche hören, als sechzehntausend Wesen Bailics Seele zerfetzten. Der Lärm schwoll an und erfüllte die Lichtung mit Erinnerungen an Reue und Elend. Ihr Drang nach dieser Erleichterung, danach, ihre Schuld auf greifbare, unbestreitbare Weise zu sühnen, rollte auch über Alissa hinweg. Auf einen solchen Augenblick hatten sie fast vierhundert Jahre lang gewartet. Sie würden sich durch nichts aufhalten lassen.
Während die geistige Kraft über sie hinwegbrauste wie ein starker Wind, stand Nutzlos so unerschütterlich wie der Berg selbst, hielt sie sicher fest und schützte sie vor dem allerschlimmsten Grauen. Immer noch tobte der lärmende Tumult. Bailic konnte unmöglich noch existieren, doch die guten Seelen von Ese’ Nawoer, die sich zu weit in ihre zerstörerische Sühne hineingesteigert hatten, merkten es nicht. Sie waren außer Kontrolle.
»Jetzt, Alissa« , forderte Nutzlos angespannt in ihren Gedanken. »Befreie sie.«
Sie hob ihr tränennasses Gesicht, um in sein altes, runzliges Antlitz zu schauen, und schluchzte: »Wie?«
»Die Lichtung« , fuhr er sie an. »Lodesh hat gesagt, du müsstest dich erinnern. Mach alles so wie bei deiner V i sion, die sie geweckt
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