Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
aus.
»Ihr sagt das, als wäre es eine Beleidigung«, unterbrach ihn Nutzlos.
Bailic warf ihm einen Blick zu, und Alissa rückte näher. Stirnrunzelnd wandte Bailic sich nach der Sonne um. Das feuerrote Glühen verlieh seiner sonst so teigig blassen Haut einen beinahe gesunden Anschein. »Ich war gerade im Begriff, sie zu wecken«, erklärte er, »durchaus erfolgreich, als ich unterbrochen wurde.«
»Ich sehe nichts von Eurer Armee«, entgegnete sie und flüsterte dann Nutzlos zu: »Nur noch ein wenig länger …«
Bailic zeigte angriffslustig auf die Männer hinter ihr. »Der eitle Pfau, der Euren Pfeifer im Zaum hält, trägt die Blüte der Stadt. Er ist der hoch angesehene Lodesh Stryska, Stadtvogt von Ese’ Nawoer, derjenige, der in Wahrheit alle Schuld und Verantwortung trägt. Er wandelt auf Erden. Er ist wach. Er ist erschienen, als ich die große Wiese der Stadt erreichte und verlangte, er möge vor mich treten.«
Alissa wandte den Kopf, um Lodesh fragend anzusehen. Sie konnte nicht glauben, dass er auf Bailics Befehl hin erscheinen würde. Ganz leise hörte sie ihn in ihren Gedanken kichern. »Ein glücklicher Zufall zur rechten Zeit, meine Teuerste. Regeln sind Regeln, aber noch g e höre ich nicht ihm.«
»Zwar«, fuhr Bailic fort, der von alldem nichts bemerkt hatte, »hat der Stadtvogt mich bisher daran gehindert, die Übrigen zu erwecken, doch ich werde ihm schon noch Gehorsam beibringen. Und wo er hingeht, dorthin folgen ihm die anderen. Das Volk von Ese’ Nawoer soll seinen Vögten unendlich treu ergeben gewesen sein, vor allem dem charismatischen Lodesh.« Bailic zögerte, und sein Gesicht erschlaffte. »Aber Ihr kennt ihn schon«, flüsterte er. »Weshalb sonst hätte er Euch so ansprechen sollen? Wie kommt es, Alissa, dass Ihr den Stadtvogt bereits kennt?«
Alissa riss die Augen auf, und sie und Bailic starrten Lodesh an.
»Äh – huch!« Lodesh wich zurück und grinste dümmlich.
»Huch?«, tobte Nutzlos. »Euer erbärmliches Herumstreichen rächt sich nun doch, und alles, was Ihr dazu zu sagen habt, ist huch?«
»Es tut mir aufrichtig leid, Talo-Toecan«, entschuldigte sich Lodesh und gab Alissa dabei unauffällig, aber drängend ein Zeichen. »Ich sehe ein hübsches Gesicht und kann einfach nicht anders.«
Ihr Buch!, erkannte sie, nutzte Lodeshs Ablenkung und griff danach. Ihre unerhört langen Finger streckten sich und berührten sogar die seidigen Seiten, als Bailics gestiefelter Fuß plötzlich auf die dünne, zerbrechliche Hand hinabfuhr. Knochen brachen, als er ihre Finger boshaft mit dem Absatz zerquetschte. Quälender Schmerz flammte auf, und unwillkürlich schrie sie und wich zurück. Alissa schlug mit dem Schwanz aus, doch er duckte sich, und ihr Schwanz knallte mit einem dumpfen Aufprall und einer neuen Woge von Schmerz gegen einen Euthymienbaum.
»Alissa!«, schrien Nutzlos und Strell wie aus einem Munde. Doch sie hörte nichts mehr, denn im selben Augenblick knallte es, und sie war in einem undurchlässigen Feld gefangen. Plötzlich waren ihre zermalmte Hand und der schmerzende Schwanz vergessen, weil sie keine Luft mehr bekam.
»Raus!« , kreischte sie in der schweren Dunkelheit ihres Verstandes. »Ich muss hier raus!« Panik beherrschte sie völlig, und sie wäre verloren gewesen, wenn Bestie Alissa nicht lachend daran erinnert hätte, dass sie den Atem viel länger anhalten konnte, als es vermutlich dauern würde, Bailics Feld zu brechen.
Alissa fiel zum Schein in Ohnmacht, entspannte sich und schalt sich im Stillen eine Närrin, weil sie selbst Bailic ein undurchlässiges Feld gezeigt hatte. Sie hatte ihn ganz vergessen, als sie heute Morgen in aller Unschuld dieses kleine graue Ding damit gebunden hatte. War das wirklich erst heute Morgen? , wunderte sie sich, während sie ihr Bewusstsein Bailics Feld abtasten ließ – es war makellos. Nun, das wird es nicht lange bleiben, dachte sie.
Äußerst vorsichtig formte Alissa ihr Bewusstsein zu einer Spitze, so scharf, wie sie sie in ihrer Vorstellung nur machen konnte. Sie stärkte sie mit ihrer Entschlossenheit und stach dann mit aller Kraft auf Bailics Feld ein. Ihre Spitze schoss hindurch und schuf nur ein winziges Loch, doch das genügte. Sobald der vollkommene Zusammenhang gebrochen war, zerplatzte das Feld. Sie setzte sich auf, drückte die verletzte Hand an sich und sog gierig die kühle, feuchte Luft ein, während sie gleichzeitig festzustellen versuchte, was geschehen war.
»Strell!« , kreischte sie und
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