Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
anderen Arm geklemmt, und er konnte kaum richtig laufen. Sie selbst war zumindest für Schnee ausgerüstet. Strell aber nicht, und bei der Vorstellung, dass sie fast einen ganzen Tag hier draußen verbringen würden, fühlte Alissa sich elend vor Mitleid.
»Weiter«, sagte Bailic und stieß sich von dem Baum ab. »Wir sind schon fast da.« Misstrauisch blickte er auf, nun offensichtlich doch nicht so furchtlos, wie seine Worte von heute Morgen hatten vermuten lassen.
Strell und Alissa wechselten besorgte Blicke und wankten weiter. Wenn sie nur Nutzlos rufen und ihm sagen könnte, dass Bailic sich außerhalb der Feste befand und angreifbar war. Doch nur, wenn der Meister seinen Geist in ihren fügte, konnte sie ihn zuverlässig hören und sich verständlich machen. Anscheinend war der Meister heute anderswo unterwegs. Am Himmel waren weder Wolken noch Rakus zu sehen.
Der Schnee schien sie hinabzuziehen, obwohl sie sich genau auf dem Weg hielt, den Strell bahnte. Stoisch folgte sie ihm, den Kopf gesenkt und den Blick auf den Boden gerichtet. Bailic hielt sich dicht hinter ihr. Das machte sie nervös, doch seine Begierde, die Stadt zu erreichen, war ansteckend. Auch sie konnte es kaum erwarten, die verlassene Stadt zu sehen. Ihr Vater hatte ihr von Ese’ Nawoer erzählt, als gruselige Gute-Nacht-Geschichte. Erst später hatte sie von Bailic erfahren, dass sich die Ereignisse tatsächlich so abgespielt hatten.
»Süß wie Kartoffeln«, sagte Strell und riss sie aus ihren Gedanken. Alissa blieb neben ihm stehen. Kralle schwebte leise herab und landete auf Alissas Schulter, und gemeinsam starrten sie von den letzten Bäumen aus auf die schimmernden Dächer der Stadt.
»Wie haben wir das auf dem Weg zur Feste verfehlt?«, flüsterte sie, obwohl sie wusste, dass es an Strells Abkürzung durch Unterholz und Dornbüsche gelegen hatte. Nun, das war überhaupt keine Abkürzung gewesen, im Gegenteil, und sie waren an der Stadt vorbeigelaufen, ohne zu bemerken, dass es sie gab.
Vor ihnen erstreckte sich eine weite, offene Ebene um die hohe Stadtmauer herum. Die Sonne glitzerte blendend hell auf der verschneiten Fläche. Dunkle Schieferdächer ragten über der mächtigen Mauer auf, und Alissa erwartete beinahe, jemanden aus einem der oberen Stockwerke winken zu sehen. Kein Rauchfähnchen, kein Laut, kein Hauch eines Geruchs störte den stillen, weiten Himmel.
Bailic blieb hinter ihnen stehen und suchte unter dem Schutz der kahlen Äste mit einem langen Blick den makellos blauen Himmel ab. »Ich hatte recht«, erklärte er selbstzufrieden, kniff die Augen zusammen und fuhr sich mit einer behandschuhten Hand über die Augen. »Talo-Toecan ist nicht hier. Kommt, weiter.« Er zog sich den Schal bis unter die Augen hoch, schob sich an ihnen vorbei und ging auf die eingestürzten Torflügel zu.
Strell und Alissa folgten ihm schweigend. Ihre Neugier auf die Stadt verblasste, als sie das Unheil verkündende Loch betrachtete, welches der umgekippte Torflügel hinterlassen hatte. Der Wind hielt die große Öffnung weitgehend frei von Schnee, doch es sah beinahe so aus, als hätten Menschen sie freigefegt. Je näher sie kamen, desto dicker und höher kam ihr die Mauer vor, und Alissa unterdrückte ein Schaudern. Ihr Papa hatte ihr einmal erzählt, dass alle großen Städte Mauern hatten, doch die Gefahr musste in der Tat gewaltig und schrecklich gewesen sein, wenn sie hier eine so hohe Mauer errichtet hatten.
Ihr Blick fiel von der scharfen Linie, die die Mauerkrone vor den Himmel zeichnete, auf den anderen Torflügel, eine gewaltige Steinplatte, die noch aufrecht stand. Die Platte lehnte schief an der Mauer und hing nur mehr am untersten von drei Scharnieren. Roter Staub rieselte herab und befleckte den Schnee, als Strell sich reckte und mit der eingewickelten Hand über das mittlere Scharnier strich. Es war so dick wie ihr Arm und fast im rechten Winkel abgeknickt, als sei es von innen herausgesprengt worden. Die andere Hälfte des Tors lag draußen vor der Mauer. Beide hatten weder Schloss noch Riegel, und der glatte Stein sah ganz so aus, als hätte es so etwas auch nie gegeben.
Jenseits der Mauer erstreckten sich leere Straßen und stille Häuser. Alissa blieb am Tor stehen und zögerte, es zu passieren. Ein Windstoß fegte den Schnee von ihren Schuhen, und sie erschauderte. Kralle zwitscherte ihr von ihrer Schulter herab aufmunternd zu.
»Schau! Da steht etwas geschrieben«, sagte Strell und deutete auf den großen, langen
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