Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Halbblut. Darüber haben wir bereits gesprochen, Tiefländer.«
Alissa schnürte es die Brust zu. Dass sie eine Mischung aus Hoch- und Tiefländerin war, war nicht zu übersehen, doch unvermutet so grob daran erinnert zu werden schmerzte sie. Offenbar besaß Strell die menschliche Größe, ihre Herkunft zu ignorieren, doch der Hass auf Halbblüter wurde jedem, im Tiefland wie im Vorgebirge, so tief eingeprägt, dass Strell sicher niemals etwas anderes in ihr sehen würde als dieses seltsame Mädchen, das ihm auf dem Weg zu einer legendären Festung begegnet war. Das war ihr zuvor nicht wichtig erschienen. Jetzt aber doch. Elend starrte sie durch die Fenster auf den wolkenlosen Himmel.
Sie hörte Bailics leise Schritte, als er ging, und Strell rief ihm nach: »Ihr könntet wahrhaftig toleranter sein – so, wie Ihr selbst ausseht.«
»Genug!«, spie Bailic aus und stürmte zurück in den Übungsraum.
Alissa keuchte auf, als sie ein scharfes Ziehen an ihrem Geist spürte. Bailic schuf einen Bann. Strell erstickte beinahe an seinen nächsten Worten und gab ein Grauen erregendes Röcheln von sich. Er erstarrte zu völliger Reglosigkeit, seine Miene gefror zu einer Maske aus Wut und Frustration. Bailic hatte ihn mit einem Bann erstarren lassen, so dass er zu nichts mehr fähig war als den grundsätzlichsten Bewegungen, die ihn am Leben hielten.
Während Alissa noch in entsetzter Unentschlossenheit in ihrem Sessel saß, beugte Bailic sich vor, um Strell über den schmalen Tisch hinweg auf Augenhöhe ins Gesicht zu starren. »Ich war sehr geduldig mit dir«, sagte er leise.
Alissa fuhr ängstlich zusammen. »Ihr könnt ihn nicht töten«, sagte sie mit bebender Stimme. »Ihr dürft es nicht. Sonst werdet Ihr das Buch niemals öffnen können.«
Bailic ignorierte sie und richtete sich auf. Er legte das Buch auf den Tisch und verschränkte die Arme. Dann neigte er den Kopf zur Seite, musterte Strell und überlegte offenbar, was er tun sollte. Alissa biss sich auf die Lippe, als Strell versuchte, sich zu bewegen, aber nur ein leises Stöhnen von sich geben konnte. Sein Gesicht färbte sich rot vor Anstrengung, und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.
»In einem Punkt hast du recht«, sagte Bailic und ging um den Tisch herum, um neben ihm stehen zu bleiben. »Haare wachsen wieder. Aber es muss etwas geben … Ah.« Er beugte sich hinab und flüsterte Strell ins Ohr: »An welcher Hand brauchst du alle Finger, um deine Flöte zu spielen? An der rechten. Ja?«
Eiskalte Panik durchfuhr Alissa. »Bailic, nein!«, rief sie und stand auf. »Er ist ein Barde. Er braucht seine Hände zum Spielen. Das ist sein Leben.«
Ein Blitz fuhr über ihre Pfade, zeigte ihr kurz das Muster, das der Bann in ihrem Bewusstsein annahm, und dann nichts mehr. Ihre Muskeln erstarrten, ihr Herz raste vor Angst. Bailic hatte auch sie mit einem Bann belegt! Er hatte sie nicht einmal angesehen! Wie sollte sie gegen solche Schnelligkeit kämpfen?
»Dein Leben, Pfeifer?«, fragte er, zog Strells rechte Hand unter dem Tisch hervor und legte sie auf die Tischplatte. Sie war von der Sonne gebräunt und vom langen Reisen sehr kräftig. »Du brauchst nicht alle diese Finger, um ein Buch aufzuschlagen.
Und deshalb bist du schließlich noch am Leben. Damit du ein Buch aufschlägst. Und weiß du, was ich tun werde, wenn du dieses Buch öffnest?«, flüsterte er. »Ich werde die Toten erwecken. Eine ganze Stadt voll Toter, die nur meinem Willen gehorchen werden.«
Alissa versuchte sich zu rühren, als Bailic Strells kleinen Finger anhob. »Ese’ Nawoer zählte sechzehntausend Seelen, als sie ihre Mauern errichteten, um sich vor jenen zu schützen, die Zuflucht vor der Seuche des Wahnsinns suchten«, erklärte Bailic leichthin. »Frauen und Kinder, aus dem Tiefland wie aus dem Hochland, zogen dorthin, um Hilfe zu suchen. Die Stadt in den Bergen stellte sich taub und blind und verweigerte ihnen den Zutritt, selbst dann noch, als ihre Bitten um Gnade sich im Griff des Wahnsinns in rasende Wut verwandelten. Die Stadt sah zu, wie sie einander vor ihren Toren in Stücke rissen, und durch diese Schuld ist Ese’ Nawoer verflucht. Die Seelen der Stadt werden demjenigen dienen, der sie erweckt, und mit dem Buch wird es mir gelingen.«
Der Bewahrer kam wieder um den Tisch herum und ging in die Knie, um Strell mit spöttischem Lächeln in die Augen zu blicken. »Und weißt du, was ich mit meinen sechzehntausend Seelen anfangen werde? Mit meinen
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