Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Stadt, wie Nutzlos sich ausgedrückt hatte, verödet war. Nutzlos behandelte ihn wie seinesgleichen. Beinahe. Alissa fühlte sich verloren, hob die Hand und berührte Kralles Füße.
»Einen prächtigen Raubvogel habt Ihr da, Teuerste.« Lodesh beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt.
Sie blickte auf, direkt in seine erwartungsvollen grünen Augen. »Danke«, sagte sie und verfluchte sich, als sie spürte, wie sie rot wurde. »Sie heißt Kralle.«
»Passend.« Lodesh nickte scharf. »Jagt sie für Euch?«
»Das tut sie, Herr Vogt.«
»Bitte, nennt mich Lodesh«, rief er strahlend aus.
Zu ihrer Linken murmelte Nutzlos eine finstere Bemerkung.
»Das tut sie, Lodesh«, wiederholte Alissa und erwiderte schwach seinen herzlichen Blick. »Sie frisst erst, wenn ich ihre Beute dankend abgelehnt habe«, fügte sie hinzu, und Kralle zwitscherte fröhlich, als beide sie betrachteten.
Lodesh wich in gespielter Überraschung zurück. »Welche Hingabe an ihre Herrin.«
»Anscheinend«, unterbrach ihn Nutzlos, »hat meine Schülerin ein Händchen dafür, energische Beschützer für sich zu gewinnen.«
»Das verwundert mich keineswegs.« Lodesh trank seinen Becher aus. Mit einem dumpfen Klirren stellte er ihn auf die Bank. »Ich sollte nicht hier sein«, sagte er. »Es wäre nicht gut, wenn Bailic mich hier findet. Ich bin nur gekommen, um Euch meine Aufwartung zu machen, doch bevor ich gehe – ich habe etwas für Euch.« Er griff neben sich und hob seinen Stab auf. Förmlich neigte er den Kopf und bot ihn Alissa dar.
Alissa warf Nutzlos einen raschen Blick zu und wartete auf sein Nicken. Diese Kleinigkeit entging Lodesh nicht, und er gab ein Brummen von sich, das sie auf unheimliche Weise an Strells wortlose Kommentare erinnerte. »Ich danke Euch«, sagte sie, als sie den Stab aus rötlichem Holz entgegennahm. Die Farbe erinnerte sie an die Flöte, die Strell vor einigen Monaten mittendurch gebrochen hatte – die Flöte, die einst seinem Großvater gehört hatte. »Mein Stab wurde vor kurzem zerbrochen.«
»Dieser hier ist aus stärkerem Holz geschnitzt«, versprach Lodesh und überließ ihn ihr.
Er war schwerer, als sie erwartet hatte, das polierte Holz beinahe rutschig. Der gleiche Duft nach Äpfeln und Kiefern hing daran, den Alissa inzwischen mit Lodesh verband. »Das ist ein sehr aufmerksames Geschenk«, sagte sie und staunte über die schlichte, edle Schönheit des Stabes. »Aber warum schenkt Ihr mir das?«
Er zuckte mit den Schultern und schien sich zum ersten Mal nicht recht wohl in seiner Haut zu fühlen. »Ihr seid in der Ausbildung zur Bewahrerin; Ihr solltet ein Stück der Euthymienbäume besitzen, die Eure Verbindung zur Stadt symbolisieren – ob sie nun verlassen ist oder nicht. Ich würde Euch raten, ihn vor Bailic zu verbergen. Dieser Stab könnte Euch Glück bringen«, erklärte er verschmitzt, und sein Blick ruhte auf dem Talisman, den Strell ihr geschenkt hatte und den sie um den Hals trug. »Davon kann man nie genug haben.«
»Euthymienbäume?«, fragte sie verwundert, mit ihrer Aufmerksamkeit noch ganz bei dem Stab.
»Sie haben für Euch geblüht, meine Teuerste«, erklärte er leidenschaftlich, »auf der verschneiten Wiese meiner Stadt.«
Alissa blickte verblüfft auf. Sie konnte nicht erkennen, ob er es ernst meinte oder nicht.
Nutzlos räusperte sich. »Zügelt Euch, Lodesh«, grollte er. »Sie ist nicht für Euresgleichen bestimmt.«
»Ja, das weiß ich.« Lodesh lehnte sich zurück, schloss die Augen und führte in übertriebener Dramatik eine Hand an die Stirn. »Aber man wird doch noch träumen dürfen?«
Alissas Augen weiteten sich, und sie wünschte, sie könnte im gefrorenen Erdboden versinken.
»Nein«, klagte Lodesh. »Es ist viel zu spät für mich – diesmal. Selbst ich kann erkennen, dass ihr Herz bereits an einen anderen verloren ist und sich von, wie Ihr sagtet, meinesgleichen nicht mehr wandeln lassen wird.« In gespielter Verzweiflung barg er den Kopf in den Händen und schniefte traurig.
Nutzlos wandte sich Alissa zu, die Augenbrauen fragend hochgezogen. Alissa hätte auf der Stelle sterben mögen. Sie hatte kaum damit begonnen, sich selbst einzugestehen, dass sich zwischen ihr und Strell etwas entwickelt haben könnte. Sie wollte nicht, dass es gleich die ganze Welt erfuhr.
Lodeshs gespielter Kummer verflog mit einem leisen Kichern. »Ihr, alte Bestie, habt viel zu lange fernab der Menschheit und ihrer Gedankenwelt gelebt«, erklärte er
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