Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
vorwurfsvoll. »Deine Vision muss außerordentlich lebhaft gewesen sein, da sie ihm so viel Substanz verliehen hat.«
»Aber ich habe nichts getan!«, protestierte sie.
Nutzlos wartete schweigend, bis Alissa zu ihm aufblickte. »Du hast ganz sicher etwas getan«, erklärte er. »Wozu das schließlich führen wird, kann ich nicht einmal vermuten. Wenn Bailic erkennt, dass die Stadt geweckt wurde, wird er dich zwingen, seinen Willen auszuführen, und das Ergebnis wird das gleiche sein, als wenn er sie selbst erweckt hätte. Die Seelen von Ese’ Nawoer würden großen Schaden anrichten«, flüsterte er und starrte bekümmert ins Feuer. »Diese Entwicklung ist nicht gut. Lodesh hat schon genug gelitten, ebenso wie sein Volk.«
»Ich wollte sie doch gar nicht wecken«, begann Alissa flehentlich.
Nutzlos hob beruhigend die Hand. »Schon gut. Ich weiß nicht, wie es dir überhaupt gelungen ist, doch jetzt ist es nicht mehr zu ändern. Vielleicht führt es eines Tages noch zu einem guten Ende. Sie sind an dich gebunden, bis du einen Weg findest, sie von ihrer Schuld zu befreien.«
»Sie … dienen mir?«, stammelte sie.
Nutzlos hüstelte trocken. »Eher nicht. Es ist genau umgekehrt. Sechzehntausend Seelen verlassen sich jetzt darauf, dass du eine Möglichkeit findest, sie zu erlösen.« Er sah sie mit einem Ausdruck an, der Mitleid hätte sein können. »Das ist eine gewaltige Aufgabe, die du dir da aufgeladen hast.«
»Das wusste ich nicht, Nutzlos. Ich will sie nicht haben!«
»Es ist zu spät. Beruhige dich«, ermahnte er sie. »Sie haben jahrhundertelang geschlafen. Es wird ihnen nicht schwerfallen, noch eine Lebensspanne länger auszuharren, bis ein Weg zu ihrer Befreiung gefunden ist.« Er wandte sich dem Feuer zu, und ein weiterer Zweig folgte seinen bereits brennenden Gefährten.
Alissa saß da, ihren Sorgen überlassen. Nutzlos schwieg und sah zu, wie die Schneeflocken in den Flammen ihr Ende fanden. Anscheinend wusste er, dass sie noch mehr Fragen haben würde. »Nutzlos?«, sagte sie leise.
»Ja?«
»Ihr habt Lodesh gefragt, ob er etwas vorhabe, und er hat nein gesagt. Wenn ich ihn darum bitte, würde er – könnte er Bailic überwältigen?«
Nutzlos rutschte auf der Bank herum und runzelte die Stirn. »Wenn du ihn darum bitten würdest, würde er es versuchen. Ich weiß nicht genau, ob es ihm möglich wäre. Wenn alle Umstände ausgeglichen wären, denke ich, er könnte es, aber das sind sie nicht. Jemanden durch die Kraft der Gedanken zu verletzen, geschweige denn zu töten – die bloße Idee wird den Bewahrern während ihrer Ausbildung strikt ausgetrieben. Eine ganze Generation von Bewahrern hat ihr Leben verloren, als Bailic seine Fähigkeiten verfeinert hat. Lodesh beherrscht zwar mehr Banne, doch er wäre stark im Nachteil, weil er gar nicht wüsste, welche direkt töten, welche nur verstümmeln, welche –«
»Ich verstehe«, unterbrach sie ihn und erinnerte sich schaudernd an Bailics gelassene Stimme, als er beiläufig Strells Finger verstümmelt hatte.
Nutzlos nickte. »Lodesh wäre nicht schnell genug für Bailics mittlerweile instinktive Reaktionen. Ich würde ihn nicht darum bitten, irgendetwas zu tun.« Er zögerte. »Der Stadtvogt scheint seine eigenen Pläne zu verfolgen. Wie üblich«, fügte er hinzu, und es klang besorgt.
Alissa ließ sich das durch den Kopf gehen, und wieder einmal war ihre Hoffnung, ihre Schwierigkeiten einfach beenden zu können, dahin. »Nutzlos?«
»Ja, Kind?« Diesmal klang er müde.
»Lodesh kennt Euch, doch Ihr habt gesagt, Ihr hättet nie damit gerechnet, ihn wiederzusehen.«
»Ja«, entgegnete er zurückhaltend, offenbar unsicher, worauf sie hinauswollte.
»Wie …«, begann sie und zögerte dann. Das war doch sehr persönlich. »Wie alt seid Ihr?«, platzte sie heraus.
»Ich habe schon lange aufgehört zu zählen.«
»Bitte …«
Er seufzte. »Mal sehen. Ich war jung, als ich die Feste erbaute, und alt, als ich dir zum ersten Mal begegnet bin.«
»Wann war das?«, fragte Alissa leise.
»Offiziell? In deinem zweiten Sommer. Erinnerst du dich nicht daran? Du bist rot geworden und hast geweint, bis ich dich mit einem Grashalm an der Nase gekitzelt habe.«
»Nutzlos«, jaulte Alissa auf, doch sie bemerkte erleichtert, dass sein Sinn für Humor zurückgekehrt war. Er hatte so distanziert gewirkt, während er von Ese’ Nawoer gesprochen hatte.
»Also schön, eine kurze Geschichtsstunde.«
»Eure Geschichte«, verlangte sie.
»Meine
Weitere Kostenlose Bücher