Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Geschichte«, bestätigte er und nippte an seinem Tee. »Ich habe die Feste vor langer Zeit fertiggestellt.«
Stumm wartete Alissa ab.
»Vor fünfhundertneunundvierzig Sommern, minus ein paar Tage.«
Alissa klappte vor Verblüffung der Unterkiefer herunter.
»Vor langer, langer Zeit«, sagte er mit einem belustigten Funkeln in den Augen.
Sie schloss den Mund mit einem Schnappen. »Lebt Ihr ewig?«, fragte sie, weil sie halb damit rechnete.
»Nein, natürlich nicht.« Er lächelte. »Aber wir altern sehr langsam. Mir bleibt noch mindestens ein Jahrhundert.«
»Ein Jahrhundert?«, flüsterte sie.
»Möglicherweise mehr«, gestand er beinahe schuldbewusst.
»Möglicherweise mehr …« Alissa schüttelte den Kopf und versuchte, in Gedanken das Konzept einer so langen Zeitspanne zu erfassen. Es wollte ihr nicht gelingen. Der Schnee trieb weich und still herab und bildete einen erschreckenden Kontrast zu ihren durcheinanderwirbelnden Gedanken. Das war einfach zu absurd fantastisch, um es begreifen zu können. Sie hatte einen Raku als Lehrmeister, der mindestens sechshundert Jahre alt war. Er war mit einem Geist befreundet, der vor etwa vierhundert Jahren gelebt hatte. Dieser Geist, mitsamt seinen sechzehntausend Schützlingen, erwartete von ihr, dass sie ihrer aller Seelen von einer Tragödie erlöste, die sich vor dreihundertvierundachtzig Jahren zugetragen hatte.
»Ich kann das nicht, Nutzlos«, flüsterte sie und spürte, wie ihr Atem sich beschleunigte. »Ich kann es nicht.«
»Niemand erwartet von dir, dass du irgendetwas tust, Kind«, sagte Nutzlos, als wisse er, woran sie dabei dachte.
Sie blickte mit aufgerissenen, panischen Augen zu ihm auf. »Aber ich kann das nicht. Ich kann mich ja selbst kaum am Leben erhalten. Ich kann nicht die halbe Welt retten.«
Nutzlos lächelte sanft. »Du brauchst auch nur dich selbst zu retten. Ignoriere den Rest so lange, bis du etwas für sie tun kannst.«
»Sie ignorieren!«, rief sie ungläubig. »All diese Leute? Wie denn?«
»Darf ich mir deinen Stab ansehen?«, fragte er sanft.
Erstaunt über seine Kaltherzigkeit, riss Alissa den Stab hoch und streckte steif den Arm aus. Er nahm den Stab, musterte ihn einen Moment lang und schlug ihr dann damit gegen die Schienbeine.
»Au!«, schrie sie auf, als heftiger Schmerz sie durchzuckte. »Warum habt Ihr das getan?«
»Zur Ablenkung«, sagte er, und ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Nun machst du dir keine Sorgen mehr wegen Dingen, die du nicht kontrollieren kannst, nicht wahr?« Er ließ sich zurücksinken und wandte sich dem Feuer zu. »Es ist überraschend, wie leicht man vergisst, wenn man abgelenkt ist«, bemerkte er. »Zumindest, solange die Sonne am Himmel steht.« Er gab ihr ihren Stab zurück. »Fühlst du dich jetzt besser?«
»Nein!«
»Das wirst du bald«, sagte er. »Lodesh hat recht«, erklärte er dann lauter. »Dein neuer Stab wird nicht so leicht brechen. Euthymienholz ist extrem hart.«
Alissa hob leicht ihren Rock und sah, dass ihre Schienbeine bereits anschwollen. »Allerdings«, fuhr sie ihn an.
Nutzlos wandte den Blick ab. »Eines kann ich dir allerdings mit Sicherheit sagen: Lodesh hat noch niemals ein so großes Stück seiner kostbaren Bäume verschenkt, zumindest wüsste ich nichts davon. Das war ein sehr weitsichtiges, aufmerksames Geschenk. Er hat dir bereits gute Dienste geleistet«, fügte er trocken hinzu.
»Er ist zu lang«, sagte sie und zog ihren Rock wieder herunter.
»Ach ja?« Er rückte unbehaglich beiseite und blickte in den fallenden Schnee auf.
Nutzlos sagte kein weiteres Wort, doch Alissa wusste, wenn er anfing, in den Himmel zu starren, war ihre Zusammenkunft vorbei. Sie trat mit den Fersen gegen die harte Steinbank. »Also, werdet Ihr mir nun sagen, wie ich Euch mit meinen Gedanken rufen kann?«, fragte sie, obwohl sie bereits wusste, dass er das nicht tun würde.
Er rutschte wieder hin und her. »Es ist kalt. Warum machen wir nicht Schluss für heute Nacht?«
»Ich friere nicht«, sagte Alissa und zwang sich, die krampfhaft um ihre Mitte geschlungenen Arme zu lockern. Er versuchte, sich herauszuwinden, aber sie würde ihn nicht kampflos ziehen lassen.
Nutzlos erhob sich und zupfte seinen Mantel zurecht. »Ich schon. Geh wieder hinein, bevor du an der Bank festfrierst. Baue diesen Illusionsbann jedes Mal neu auf, wenn du merkst, dass er gefallen ist. Wenn du ihn im Schlaf aufrechterhalten kannst, hast du die Technik wahrhaft gemeistert. Ich komme bei
Weitere Kostenlose Bücher