Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
knackte, und Nutzlos zuckte zusammen. Alissa wurde eiskalt, als Kralle zu zischen begann und sie in die Schulter kniff.
»Asche, Talo-Toecan«, erklang eine angenehme Männerstimme aus der Dunkelheit. »Warum besteht Ihr nur darauf, das Düstere an jeder denkbaren Situation zu sehen? Ihr seid schlimmer als meine Großmutter!«
Mit großen Augen stellte Alissa ihren Becher beiseite und sah Nutzlos an. Dieser wirkte ebenso überrascht wie sie. »Wer seid Ihr?«, fragte Nutzlos mit kalter Stimme. »Und wie seid Ihr ohne mein Wissen in meinen Garten gelangt?«
»Ich dachte, ich sei hier stets willkommen«, entgegnete die fremde Stimme mit einem vertrauten Akzent. Sie klang belustigt, als hätte sie einen Witz gehört, der den beiden anderen entgangen war. »Doch das ist schon einige Zeit her, sogar nach Maßstäben der Rakus.« Ein Schatten am Rand der Feuerstelle bewegte sich, und ein Mann, in einen eleganten Mantel gehüllt, trat in den Feuerschein.
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L odesh?« Nutzlos trat zögernd einen Schritt vor.
Er sieht aus wie Strell, dachte Alissa, als Kralles Zischen einem scharfen Piepsen endete. Doch je länger Alissa hinsah, desto geringer wurde die Ähnlichkeit. Schließlich befand sie, dass der Eindruck vor allem durch den Schnitt seines Mantels hervorgerufen wurde. Auch sein Hut sah aus wie Strells, oder vielmehr wie der, den sie ihm gegeben hatte – ein Schlapphut. Die Krempe war mit einer Blüte bestickt. In den Händen hielt er einen Stab, der ihn überragte, obwohl das untere Ende fest auf der gefrorenen Erde stand. An den Füßen trug er schneegeränderte alte Lederstiefel, die ihm bis über die Waden reichten; darin steckte ordentlich seine Hose. Das Blütenmuster war mit Silberfaden auch auf den Kragen seines knöchellangen Mantels gestickt. Sie hätte darauf wetten mögen, dass es darüber hinaus den schwer aussehenden Ring zierte, den er am Finger trug.
Erst jetzt wanderte ihr Blick hinauf zu seinem Gesicht, und sie starrte ihn an, verblüfft über den herzlichen Ausdruck von Belustigung und etwas, das sie für hoffnungsvolles Wiedererkennen hielt. Seine Augen waren grün, und sie blitzten schelmisch unter einem sorgsam frisierten Schopf weicher blonder Locken hervor. Er war glatt rasiert, sein Kinn kantig und kraftvoll. Es war ein junges Gesicht, und sie senkte den Blick, als er ihr zuzwinkerte. Das blonde Haar und die helle Haut hätten Alissa vermuten lassen, dass er aus dem Vorgebirge stammte, doch er war viel zu groß gewachsen für einen Bauern. Vielleicht stammten seine Eltern, so wie ihre, aus dem Hochland und dem Tiefland. Das könnte auch erklären, warum sein Akzent genau wie ihr eigener klang, was sie außerhalb ihres Elternhauses noch nirgends gehört hatte.
Der Mann trat näher und ergriff mit beiden Händen Nutzlos’ ausgestreckten Arm. Ein angenehmer Duft nach Äpfeln und Kiefern ging von ihm aus. »Ihr seht alt aus, Talo-Toecan«, sagte er. »Ist es wirklich schon so lange her?« Er grinste und musterte Alissas Lehrmeister von Kopf bis Fuß.
Nutzlos runzelte die Stirn. »Ihr seht immer noch aus wie damals als Junge, Lodesh, doch Eure Stadt ist ausgestorben.« Plötzlich wurde seine Miene still und traurig. »Es ist also wahr«, sagte er, ließ Lodeshs Arm los und trat zurück. »Der Pfeifer –«
»Sieht Geister, wo er keine sehen sollte, ja«, unterbrach ihn der Mann. »Doch Euer gefallener Bewahrer hatte nichts damit zu tun. Seid beruhigt. Ich bin in einer anderen Angelegenheit hier.« Er warf Nutzlos einen langen, stummen Blick zu, und Alissas Lehrer schien erleichtert in sich zusammenzusinken.
»Seltsame Zeiten«, sagte der Meister.
»Seltsam in der Tat, wenn ein Bewahrer versuchen muss, die Stelle eines Meisters auszufüllen.«
Nutzlos fuhr überrascht zurück. »Wie bitte?«
»Nun lasst Euren alten Stummelschwanz hübsch auf dem Teppich«, erwiderte Lodesh lächelnd. »Ich bin gekommen, um Euch meine Hilfe anzubieten.« Bei diesen Worten warf er einen vielsagenden Blick auf Alissa.
Alissas Augen weiteten sich ob dieser Beleidigung. Sie wusste, dass Nutzlos ihr nicht halb so viele Frechheiten durchgehen lassen würde, wie Lodesh sich unablässig erlaubte, doch ihr Lehrer schien sich darüber beinahe zu freuen. »Ihr wollt mir helfen, meine Feste von Bailic zu befreien?«, fragte er begierig.
Lodesh wandte endlich den Blick von ihr ab. »Äh … nicht unbedingt. Ich meinte die andere Angelegenheit, mit der wir uns konfrontiert sehen.«
Nutzlos schrak
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