Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
fuhr er in leichterem Tonfall fort, »meine Brüder und Schwestern wussten nicht, dass ich gehen würde. Sie haben es erst in dem Sommer erfahren, als ich aufgebrochen bin.«
Er setzte sich auf den Tisch, um sie zu beobachten. Sie schwieg, denn sie wusste, dass er noch nicht fertig war. Das Quietschen der kreisenden Töpferscheibe war das einzige Geräusch im Raum, abgesehen von einem gelegentlichen gemurmelten Fluch. Sie merkte sehr wohl, dass es ihm schwerfiel, ihr dabei zuzusehen. Seine Finger zuckten, und seine Daumen verhakten sich ineinander wie vorhin, als er den Ton bearbeitet hatte. Alissa fragte sich, ob es so vielleicht besser ging, verhakte ihre Daumen, und er entspannte sich sichtlich, ohne je zu bemerken, dass er ihr diesen subtilen Hinweis gegeben hatte.
»Der Grund, weshalb ich der Beste sein wollte«, fuhr er fort, »war die Flöte meines Großvaters. Ich wollte sie mitnehmen dürfen, wenn ich gehen musste.«
»Das war die, die du zerbrochen hast, nicht wahr?«, fragte sie, und Strell nickte mit verzerrtem Gesicht. Alissa zog ihren Wasserkrug näher zu sich heran. Die Flöte war ein prächtiges Instrument gewesen, mit einem Klang, wie sie ihn noch nie zuvor gehört hatte. Strell hatte sie in einem Gefühlsausbruch entzweigebrochen und einfach liegen gelassen. Alissa hatte es nicht über sich gebracht, die Stücke zu verbrennen, und so lagen sie nun auf ihrem Kaminsims, neben der Blüte aus Ese’ Nawoer. »Deine Eltern hätten sie dir nicht einfach geschenkt?«, fragte sie und erinnerte sich, dass er einmal erzählt hatte, er sei der Einzige zu Hause gewesen, der diese Flöte je gespielt hatte.
»Oh nein!« Er streckte die Hand aus, um sie zurückzuhalten, als Alissa ihren Lederlappen in den Wasserkrug tunkte, um ihren Ton zu befeuchten. »Ich musste sie mir verdienen, genau wie mein Vater und Großvater … wenn du noch mehr Wasser darauf gibst, wird deine Schüssel vollends auseinanderfallen.«
»Danke«, sagte sie und wrang den Lappen über dem Krug aus.
»Sarmont wollte sie ebenfalls.« Strell seufzte und rieb sich die Nase. »Er dachte auch, dass er sie bekommen würde, da er ja der Älteste war. Aber er wusste nicht, dass ich heimlich geübt hatte.«
»Heimlich?«, murmelte sie und versuchte wieder einmal, den oberen Rand zu glätten.
»Ja. Damit Shay mir nicht die Finger bricht, so wie sie es bei Sarmont gemacht hat.«
Alissa blickte entsetzt auf. »Deine Schwester hat deinem Bruder wegen einer albernen Flöte die Finger gebrochen?«
Strell kicherte und lehnte sich zurück. »Ja, allerdings. Aber wir konnten nie beweisen, dass es mehr als nur ein Unfall war. Sie hat einen Wagen rückwärts gegen seine Hand gelenkt, als er gerade ein Tor schließen wollte.«
Alissa dehnte die schmerzenden Schultern. »Warum? Du hast doch gesagt, niemand außer dir konnte überhaupt Flöte spielen.«
»Das ist nicht nur eine Flöte, Alissa«, erklärte er leise und sah sie mit glühendem Blick an. »Sie symbolisiert das Recht auf die Gewinne aus der Arbeit meiner gesamten Familie, also verlier sie bitte nicht, ja?«
Sie öffnete den Mund, doch zunächst kam nichts heraus. »Willst du sie wiederhaben?«, stieß sie schließlich hervor.
»Behalte sie ruhig.« Strell senkte den Blick. »Sie bedeutet nichts mehr, jetzt, da sie – weg sind.« Sein Blick begegnete kurz dem ihren und huschte wieder fort. »Das hört sich vielleicht nach einer seltsamen Art an, zu entscheiden, wer die Angelegenheiten der Sippe für die nächste Generation bestimmen wird, doch so wird dafür gesorgt, dass die Qualität unserer Arbeit nicht absinkt. Und es ist sicherer als die Art, wie viele andere Häuser entscheiden, wer die Führung übernimmt.«
»Ist das denn so schwierig?«, fragte sie. Im Hochland errichteten die Kinder einfach einen eigenen Hof neben dem ihrer Eltern, wenn so etwas nötig werden sollte, was jedoch selten vorkam.
»Das kann sogar sehr schwierig sein.« Strell seufzte. »Nicht wenige Familiennamen sind durch verräterische Komplotte und Intrigen ausgestorben.«
»Du machst wohl Witze«, sagte sie, doch er schüttelte den Kopf. »Warum?«
Strell mied ihren Blick und wandte sich ab. »Mir ist aufgefallen«, sagte er langsam, »dass du Äpfel lieber geschält isst, wenn du die Wahl hast.«
Verblüfft über diesen Themenwechsel, nickte sie stumm.
Strell rieb sich den Nacken. »Selbst der wohlhabendste Tiefländer lässt die Schale dran.«
»Weil …?«, fragte sie nach.
Er atmete ein wenig zittrig
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