Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
höhnischer Ruhe einen weiteren Bissen.
Das Übelkeit erregende Gefühl von Hilflosigkeit, das Gefühl, in einer Falle zu stecken, wallte in Strell auf. Es war ein Gefühl, an das er nicht gewöhnt war, und er geriet beinahe in Panik, als er die fremdartige Enge, das Eingesperrtsein seiner Gedanken spürte. Er wich zurück, konnte nur noch an die Demütigung denken, die er unter Bailics Bann empfunden hatte – er hatte nichts tun können, als zuzusehen, während der Bewahrer das obere Glied seines Fingers mit solcher Leichtigkeit entfernte, wie Strell einem Löwenzahn den Kopf abgeschlagen hätte.
Doch Schmerz verging, und seine Musik war bereits tot, seinem Bemühen um Alissas Sicherheit geopfert. Das war ein Opfer, das er nicht bereute. Was spielte es schon für eine Rolle, ob ihm jetzt noch neun brauchbare Finger blieben oder acht? Bailics Androhung weiterer Verstümmelungen war eine leere Hülse. Strell fasste neuen Mut und richtete sich auf. »Ihr habt mir schon alles genommen, was mir lieb war«, sagte er barsch.
Anscheinend unbekümmert biss Bailic wieder von dem Apfel ab, ganz in den Genuss der Süßigkeit versunken. »Nicht ganz«, sagte er. »Es ist dumm, sein Herz an irgendetwas zu hängen, vor allem an dieses Mädchen, das du mitgebracht hast.« Er nahm den letzten Rest Apfel in den Mund und kaute nachdenklich. »Ich glaube wirklich, ich werde sie behalten.«
Strells Augen weiteten sich. »Sie wird nicht hierbleiben, wenn das Buch erst offen ist«, sagte er, um Bailic zu widersprechen, aber auch, um sich selbst zu beruhigen.
Bailic hielt Strell den Teller hin, bis er ihn nahm. »Ich habe nie behauptet, dass es ihr gefallen würde, zu bleiben. Ich habe lediglich gesagt, dass ich sie behalten würde.« Er wandte sich ab, als sei die Unterhaltung damit beendet, und trat eine Stufe höher.
»Ihr habt versprochen, sie in Ruhe zu lassen«, sagte Strell und folgte ihm. »Ihr habt das verfluchte Buch bekommen. Lasst sie in Ruhe!«, schrie er, und es war ihm gleich, ob er damit Bailics Zorn heraufbeschwor. Der Bewahrer hielt inne, und Strell kam unter ihm abrupt zum Stehen.
»Die Vereinbarung mit Talo-Toecan endet, sobald das Buch aufgeschlagen wird«, sagte Bailic. »Ich werde mein Wort nicht brechen.« Bailic beugte sich über ihn und flüsterte: »Das ist auch gar nicht nötig. Aber was, wenn sie an meine Tür klopfen sollte – wieder einmal? Wer wäre ich denn, dass ich eine solche Unschuld aus meiner Kammer verbanne – ein zweites Mal?« Eine weiße Augenbraue hob sich. »Ich will mir doch nicht vorwerfen lassen, ich sei unhöflich.«
Strell schnürte es die Kehle zu. Er konnte Bailic nicht angreifen. Der Mann würde ihm die gesamte Hand wegzaubern. Doch Strells Listen und Ablenkungsmanöver funktionierten nicht mehr. Hiervor konnte er Alissa nicht schützen! Strell pochte das Blut in den Schläfen, und er rang nach Luft. Er konnte überhaupt nichts tun! »Ich lasse nicht zu, dass Ihr sie behaltet«, keuchte er, und Bailic schüttelte den Kopf.
»Dummer Kerl«, höhnte Bailic. »Du wirst bis dahin vermutlich tot sein. Das hängt ganz allein davon ab, wie schnell es dir gelingt, das Buch zu öffnen.«
»Sie zu bedrohen ermuntert mich nicht gerade, das Buch für Euch aufzuschlagen«, sagte er und spürte plötzlich den Schmerz an seiner Handfläche, wo seine Nägel sich in die Haut gruben.
»Ich denke doch. Wenn du es schnell genug öffnest, könnte ich es mir noch einmal anders überlegen. Je länger es dauert, desto mehr wird sie mir – ans Herz wachsen.« Bailic lächelte. »Gib dir mehr Mühe, Pfeifer.«
Der Geschmack der Niederlage verbreitete sich auf Strells Zunge, trocken und bitter wie Asche. Bailic beobachtete ihn, während er vor Frustration und hilflosem Zorn bebte. Sein Körper verlangte danach, sich zu erheben und zu kämpfen, doch die Erinnerung an den Schmerz und Bailics Drohung, Alissa noch Schlimmeres anzutun, ließen ihn reglos verharren.
Mit selbstzufriedener Miene sah Bailic zu, wie er mit seinen Gefühlen rang. Offensichtlich war ihm bewusst, dass Strell gerade genug Willenskraft besaß, um ihn nicht auf der Stelle anzugreifen. Der verrückte Bewahrer trat näher, und Strell zwang sich mit hämmerndem Herzen, nicht zurückzuweichen. »Eine letzte Sache noch«, flüsterte Bailic. »Zwar breche ich niemals mein Wort, dennoch bekomme ich irgendwie immer, was ich will.« Er beugte sich vor, bis sein Mund nur noch einen Fingerbreit von Strells Ohr entfernt war. »Irgendwie
Weitere Kostenlose Bücher