Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
…«, hauchte er, und der köstliche Duft von Zimt strich über Strells Gesicht. Hämisch schnaubend wirbelte Bailic herum und ging die Treppe hinauf. Nur sein letzter, herablassender Blick blieb in Strells Erinnerung zurück, um ihn zu verhöhnen und zu quälen.
Strell stand allein im Mondlicht auf der Treppe. Er schnappte nach Luft und versuchte, seine zerschmetterte Seele zu sammeln. Er konnte nichts tun. Bailic würde ihm alles wegnehmen, und er konnte nichts tun, um ihn daran zu hindern. Ja, er könnte es bis zur Küste schaffen, Alissa aber nicht. Er könnte fliehen, um sein Leben zu retten, doch er konnte Alissa nicht im Stich lassen. Erst jetzt begriff er es. Er würde sein Leben doch nicht für Alissa aufs Spiel setzen, wenn er nichts weiter für sie empfände als einfache Zuneigung. Mit einem Ruck, der ihn bis ins Innerste durchfuhr, gestand Strell sich ein, dass es Liebe war.
– 14 –
A utsch«, flüsterte Alissa, als sie mit der Nadel abrutschte. Sie warf einen raschen Blick zu Strell hinüber, der am Feuer hockte, und steckte sich den Finger in den Mund. Um zu verbergen, dass sie sich schon wieder in den Finger gestochen hatte, griff sie dann nach der Teekanne auf dem Kaminsims.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er, ohne von dem Topf mit Glasur aufzublicken.
»M-hm«, murmelte sie. Sie füllte ihren Becher und überspielte ihre Verlegenheit, indem sie rasch einen Schluck Tee trank. Sie verbrachten den Abend zusammen im Speisesaal, und der kleine Bogen des Feuerscheins reichte kaum bis an die kahlen Wände. Bailics Tablett war schon oben abgeliefert, und solange sie sich still verhielten, würden sie die Feste den restlichen Abend für sich haben. Ein Haufen grüner Stoff lag auf Alissas Schoß. Sie nähte Strell ein weiteres Hemd, denn für sich selbst hatte sie schon zwei neue Kleider oben in ihrem Zimmer. Kralle lauerte in der Küche auf Mäuse. Falken jagten eigentlich nie nach Anbruch der Dunkelheit, doch das hatte Kralle wohl niemand gesagt.
Alissa lehnte sich zur Seite, um ihren Becher auf den Boden zu stellen, und fragte sich, wann ihr Finger endlich aufhören würde zu bluten. Ihr Blick glitt in die Dunkelheit zu den nackten Wänden hinüber. Die langen Tische ließen den Raum umso kahler erscheinen. Es gab keine Teppiche, keine Wandbehänge, gar nichts. Sie verabscheute diese Leere. Bailic hatte den Raum ebenso leer geräumt wie die meisten anderen in der Feste. Sie vermutete, dass er die Vorhänge vor den riesigen Fenstern deshalb hatte hängen lassen, damit sie ihn vor der Morgensonne schützten, und nicht aus dem Bedürfnis, die kahlen Wände weicher erscheinen zu lassen. Banne hielten Wind und Kälte draußen. Wenn die Vorhänge offen waren, boten die Fenster einen Blick auf eine wunderhübsche Ecke des verschneiten Gartens.
»Weißt du«, sagte sie in das gesellige Schweigen hinein, »das hier wäre ein hübscher Raum, wenn wir ein, zwei Teppiche aus den Kellern herschaffen würden. Wir könnten auch zwei bequemere Stühle heraufbringen.«
Stirnrunzelnd begegnete Strell ihrem Blick. »Bailic will die Feste leer haben. Sie gefällt ihm so.«
Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie sich vorstellte, wie der Speisesaal aussehen könnte. »Ein kleiner Tisch wäre nett, für unseren Tee«, sagte sie. »Und ein Fußbänkchen.«
»Keine gute Idee«, warnte er sie und rührte weiterhin seine Glasur um.
Alissa untersuchte ihren Finger und nahm ihre Näharbeit wieder auf. »Bailic kommt doch nicht mehr hierher. Er hat nur deshalb alles ausgeräumt, weil er nach meinem Buch gesucht hat. Er wird nichts dagegen haben.«
Strell sagte nichts, doch er schüttelte den Kopf und ließ sich weiter auf die Fersen zurücksinken.
Ein wenig verärgert entschied Alissa, dass sie mindestens einen Sessel aus den unterirdischen Lagerräumen holen würde, und wenn sie ihn ganz allein schleppen musste. Auf diesen Monstrositäten aus hartem Holz zu sitzen wurde allmählich unangenehm. Sie hatten harte, senkrechte Lehnen und nicht einmal ein Kissen.
Strell stellte sein Töpfchen Glasur beiseite und griff nach einem anderen, mischte die Farben vorsichtig und überprüfte die Konsistenz, während die Mischung sich verdickte. Alissa beobachtete ihn mit einem leisen Gefühl von Kummer. Ihre Abende waren entschieden still geworden, seit Bailic Strell den halben kleinen Finger genommen hatte. Strell übte nun nicht mehr auf der Flöte, sondern erzählte ab und zu eine Geschichte, die sie schon
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