Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
klang ebenfalls ungewöhnlich überrascht. »Dich hätte ich hier nicht erwartet.«
Strell wollte Bailic keine Gelegenheit geben, drohend über ihm aufzuragen, deshalb hielt er sich am Geländer fest und zog sich hoch. Bailic kam langsam die Treppe herunter und blieb auf der letzten Stufe stehen. Strell beäugte den gefallenen Bewahrer argwöhnisch und ballte die Hand zur Faust, um seine Entstellung zu verbergen.
»Du findest heute Nacht keine Ruhe?«, erkundigte sich Bailic ohne jeden Anflug von Gefühl in der Stimme.
»Nein.« In gespielter Gleichgültigkeit blieb Strell ruhig vor Bailic stehen. Er verbarg seinen Hass, wie er es in den vielen Jahren der Verhandlungen mit streitlüsternen Landbesitzern und störrischen Wirten gelernt hatte. Bailic hatte ihm seinen Finger genommen, seine Musik, seinen selbst gewählten Lebensweg, doch seinen Stolz würde er Strell nicht nehmen.
»Auch ich finde keine Ruhe.« Bailics Blick fiel auf den Teller auf der Stufe, und der Anflug eines Lächelns breitete sich über sein Gesicht. »Sie macht höllisch gute kandierte Äpfel, nicht wahr?«
»So ist es.«
Bailic zupfte die lange Weste zurecht, die er offen über Kittel und Hose trug. »Eines Tages wird sie sie vielleicht auch für mich machen«, sagte er verschmitzt, »falls sie zustimmt, mir als Augen und Ohren zu dienen.«
»Sie verabscheut Euch, Bailic«, erwiderte Strell ausdruckslos. »Das wird sie nie tun.«
Bailic verdrehte den Blick zur fernen Decke und seufzte voll beleidigender Herablassung. »Sie hat dir also nicht von unserer Unterhaltung vor meinen Gemächern erzählt?« Bailic trat näher, und er strahlte eine gierige Anspannung aus, der Strell nicht traute. »Ich habe sie gebeten, hierzubleiben und für mich zu sehen, wenn das Buch geöffnet ist. Sie hat zugesagt, dass sie darüber nachdenken würde.«
Strell wich zurück, und Bailic lachte, ein bloßes Murmeln.
»Du solltest ihr das nicht verübeln«, sagte er. »Sie hat eben erkannt, was das Beste für sie ist. Sie weiß, dass ich Tiefland und Hochland in einen Krieg stürzen werde. Ich kann sie schützen.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Du kannst es nicht.«
Strell biss die Zähne zusammen und umklammerte das Treppengeländer so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Er fragte sich, ob diese Unterhaltung tatsächlich stattgefunden hatte oder ob Bailic ihn nur aufstacheln wollte, ihn provozierte, damit er einen Vorwand hatte, Strell einen weiteren Finger abzuhacken. Das würde nicht funktionieren. Strell war kein Kind, das sich so leicht manipulieren ließ. »Sie wird nicht einwilligen«, sagte er. »Sie hasst Euch sogar noch mehr als ich.«
Die Schultern des gefallenen Bewahrers sanken herab, und er lehnte sich selbstsicher ans Treppengeländer. »Tatsächlich?« Er bückte sich und hob den Teller mit dem letzten Apfel auf. »Ich bin froh, dass ich dich heute Abend hier gefunden habe. Wir müssen uns über eine Kleinigkeit unterhalten – dein Studium.«
Strell bemühte sich, seinen Schritt rückwärts beiläufig wirken zu lassen. Sein fehlender Finger pochte vor erinnertem Schmerz, und er zog die Hand an sich. Frustration brannte in Strells Brust, als Bailic die kleine Bewegung bemerkte und die Augenbrauen hochzog. Strell hätte beinahe seine Seele dafür gegeben, Bailic auch nur fünf Minuten lang als gleichwertigen Gegner vor sich zu haben.
»Deine Fortschritte scheinen bedauerlicherweise wieder einmal zu stagnieren«, sagte der Bewahrer mit leichter Stimme und biss in den Apfel. »Du hast in der vergangenen Woche keinerlei Verbesserung gezeigt. Was wirst du dagegen unternehmen?«
»Ich bemühe mich nach Kräften«, antwortete Strell leise, denn seine Atmung war flach. »Ihr habt selbst gesagt, dass ich mit Aufgaben aus dem dritten Jahr beschäftigt bin. Ich kann nicht alles über Nacht lernen.«
»Überlege dir gut, wie du mit mir sprichst«, sagte Bailic warnend, während er sich mit der freien Hand Zuckerkrümel von der Weste wischte. »Es liegt allein bei dir, wie schnell du lernst. Deine Aufgaben gehörten nur deshalb ins dritte Jahr, weil die Meister so geizig mit ihren Geheimnissen umgingen. Ich tue das nicht.« Er lächelte wohlwollend. »Ich bin sehr großzügig. Und ich werde nicht zwanzig Jahre lang auf dich warten. Du wirst dieses Buch bis zum Sommer geöffnet haben.«
»Sommer!«, rief Strell fassungslos. »Das ist unmöglich.«
»Das hoffe ich nicht, werter Pfeifer, um deinetwillen.« Bailic nahm mit
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