Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
alles verändern könnten, und ich denke, du würdest es vorziehen, die Feste bei deiner Rückkehr so vorzufinden, wie du sie verlassen hast, selbst in ihrem Niedergang.«
»Ich habe nie gesagt, dass die Feste niedergehen würde!«, rief sie aus und begegnete seinem wissenden Blick.
»Aber so ist es, nicht wahr?«, erwiderte er. »Man würde Talo-Toecan niemals gestatten, dich zu unterweisen, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe. Er ist nicht dafür ausgebildet.« Der Meister runzelte die Stirn. »Wie man sieht.«
Alissa biss sich auf die Unterlippe und nahm sich vor, besser aufzupassen, was sie sagte.
»Also«, erklärte der Meister bestimmt. »Lodesh wird betrübt sein, wenn er merkt, dass du fort bist, aber Earan wird sich freuen. Du solltest sofort aufbrechen. Talo-Toecan kehrt stets früher von seinen seltenen Ausflügen zurück, als er angekündigt hat. Er sollte dich frühestens in – sechshundert Jahren kennen lernen?«
»Eher vierhundert, glaube ich«, korrigierte Alissa ihn. Sie war sehr erleichtert, weil er offenbar zuversichtlich war, sie wieder nach Hause bringen zu können.
Redal-Stan schwieg. »Vierhundert«, wiederholte er. »Es geschieht schon so bald?«
Ihre Augen weiteten sich, und er lächelte, wenngleich es traurig und unbehaglich wirkte. »Keine Sorge, Eichhörnchen«, sagte er und starrte in die bernsteinfarbene Tiefe seines Tees. »Ich kann den Mund halten. Schaffen wir dich einfach zurück. Und ich brenne darauf, deinen neuartigen Bann selbst zu sehen.«
Er ließ sich auf dem unbequemen Stuhl zurücksinken, stellte den Becher beiseite und sah sie erwartungsvoll an. Sie starrte ihn an, und ihr wurde übel. »Ich dachte, Ihr wüsstet, wie man mich nach Hause bringen kann«, sagte sie.
Erstaunen breitete sich über sein Gesicht. »Ist das etwa kein neuer Bann?«
»Ich habe es Euch doch gesagt«, flüsterte sie, und ihr Magen krampfte sich zusammen. »Es war ein Unfall. Ich weiß noch nicht einmal, wie man zwischen Linien springt.«
Redal-Stan starrte sie an. »Du machst Witze.«
Alissa schüttelte den Kopf, und es schnürte ihr die Kehle zu. Redal-Stan öffnete den Mund, doch es drang kein Laut heraus. Er schürzte die Lippen und rieb sich den Kopf. Alissas kläglicher Blick schweifte zu ihrem leeren Becher. Sie würde niemals wieder nach Hause kommen.
»Nun«, sagte Redal-Stan schließlich, »ich wüsste nicht, was uns anderes übrigbliebe. Ich werde dir einfach beibringen müssen, wie man auf den Linien reist, damit wir nach und nach herausfinden, wie du hierhergekommen bist und wie wir dich zurückschaffen können.«
Alissa riss den Kopf hoch. »Das würdet Ihr tun?«, rief sie erleichtert.
Redal-Stans Augenwinkel bekamen tiefe Falten. »Ja, ich werde dich alles lehren, was es über die Linien zu wissen gibt. Das ist meine Spezialität. Alle lernen das von mir. Ich wüsste nicht, weshalb du es nicht lernen solltest. Es könnte aber bis zu einer Woche dauern. Kannst du so lange schweigen und deine Banne für dich behalten?«
»Ja«, sagte sie und scherte sich nicht darum, dass ihre Stimme zitterte. »Wenn Talo-Toecan mich bloß nicht sieht.«
»Asche«, brummte er. »Du machst dir nur Sorgen wegen Talo-Toecan? Was ist mit allen anderen? Bein und Asche, werden wir denn alle verwildern?«, fragte er beleidigt.
Alissa schlug die Augen nieder und weigerte sich, es ihm zu erklären. Er seufzte. »Na schön«, sagte er trocken. »Sei morgen zur sechsten Stunde in meinen Gemächern im Turm.«
»Ja, Redal-Stan.« Erleichtert ließ sie sich zurücksinken; sie war froh, dass er das Thema ruhen ließ. Sie war fest entschlossen, nicht zu fragen, wann die sechste Stunde sein sollte, um nicht dumm zu erscheinen. Lodesh würde es sicher wissen. Er würde auch wissen, wo genau im Turm Redal-Stans Gemächer lagen.
»Nun müssen wir nur noch entscheiden, ob wir dich als Bewahrerin oder als Meisterin ausgeben.« Er verzog das Gesicht, als er beim Anheben bemerkte, dass die Teekanne leer war, und stellte sie wieder hin. »Ich sehe das so: Du kannst dich entweder auf deine menschliche Gestalt beschränken und die verrückte, wilde Bewahrerin geben, die ihrer Unschuld wegen nun doch nicht zur Gemeinen verbrannt werden muss. Oder du spielst eine Meisterin, die aus der sagenumwobenen verlorenen Kolonie jenseits des Meeres geflohen ist.«
»Verlorene Kolonie!«, rief sie entsetzt aus.
»Wir müssen deine Existenz irgendwie erklären.« Er trank seinen Becher aus und betrachtete die leere
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