Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
Lodesh sich näherte, legte er die Ohren an. Der Gestank von Rakus war dem Hengst noch fremd, und Lodesh wusste, dass er stark danach riechen musste. Sie würden nicht versuchen, dieses Tier zu zähmen. Sobald sein Bein wieder in Ordnung war, würde es zu der wilden, aber überwachten Herde zurückkehren.
Lächelnd trat er vor eine große Graue. Hier gab es kein Zögern, und das Tier mit den glatten Flanken stupste ihn herrisch an, um auch etwas von dem Korn zu bekommen. »Immer mit der Ruhe, Häppchen.« Er lachte. »Gefällt es dir im Stall, oder wäre dir die große Wiese auch lieber, so wie mir?« Lodesh gab der gierigen Stute eine Handvoll Korn und ging weiter.
»Guten Abend, Graus«, hauchte er, und ein langnasiges Pferd mit höchst unvorteilhaften Proportionen zögerte über seinem Abendessen, wackelte mit einem zerzausten Ohr und mampfte dann gemächlich weiter. Lodesh hängte Trense und Decke an den Haken und schlüpfte in seine Stiefel. »Ich weiß, du bist gerade erst angekommen und hattest zweifellos vor, Häppchen mit deinen Geschichten von der Wiese zu unterhalten, aber ich muss zurück in die Stadt.«
Als hätte es ihn verstanden, verlagerte das Pferd sein Gewicht auf das andere Hinterbein und klemmte Lodesh gegen die Wand. Lodesh schubste zurück. »Bitte, Graus. Kein Pferd in diesem Stall ist so schnell und trittsicher wie du. Ich kann sonst keinem vertrauen.«
Ein Ohr schnellte zurück, dann wieder vor. Die malmenden Kiefer wurden still, und ein klares Auge, schwarz im dunklen Stall, blickte ihn an. Ermuntert kratzte Lodesh die empfindliche Haut, wo der Schwanz nicht hinreichte, was die Fliegen sehr wohl wussten. »Ich muss Sati besuchen«, flüsterte er in ein weiches Pferdeohr, und Graus nahm ein letztes Maul voll Heu und seufzte.
Grinsend schnallte Lodesh das Polster, das er anstelle eines Sattels benutzte, fest und legte sein Zaumzeug an, das nicht aus Leder, sondern aus Seil bestand. Die Huftritte, die von der niedrigen Decke widerhallten, kamen ihm ungewöhnlich laut vor, und erleichtert schloss er die mächtige Flügeltür auf und betrat den mondbeschienenen Hof. Als er aufstieg, drehte er sich um und winkte den beiden Stallmädchen zu, die nun an der Tür standen. Sie winkten zurück und huschten wieder hinein, zweifellos, um sich flüsternd zu unterhalten, bis sie erneut einschliefen.
Lodesh entspannte sich und war froh, dass Graus den Weg allein finden konnte. Seine Gedanken wirbelten durcheinander und kehrten immer wieder zu der geheimnisvollen Alissa zurück. Sie war so nervtötend wie ein Spreißel und ebenso schwer zu ignorieren. Und wild, dachte er und schnappte nach Luft. Wer konnte wissen, wozu sie fähig sein mochte? Seine Ehrlichkeit zwang ihn, sich einzugestehen, dass ein Teil seines Interesses daher rührte. Aber es war mehr als das. Er hatte schon früher den Gefährlichen nachgestellt und die Unverführbaren verführt. Nein. Es war beinahe, als sei er ein wenig in sie verliebt.
Wie, fragte er sich, als er die Bäume erreichte, hatte das geschehen können? Er war kein rührseliger Ziegenhirte, der sehnsüchtig von einem hübschen Gesicht träumte, selbst wenn sich hinter diesem hübschen Gesicht ein unbezwingbarer Wille und ein intelligenter Geist verbargen. Sie hatte seinen berühmten Charme nicht einmal bemerkt, sondern ihn direkt durchschaut, und sie war ihm mit einer lockeren Freundschaft begegnet, die er seit – seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Er würde sich nicht erlauben, sich dieser Art von Schmerz noch einmal zu öffnen.
Doch anscheinend hatte er das bereits getan.
Während er den Weg nach Ese’ Nawoer zurücklegte, kam der Mond hinter den Wolken hervor. Noch ehe er eine Handbreit am Himmel fortgeschritten war, hallte Graus’ Hufschlag von Mauern und Häusern wider. Das Pferd verlangsamte den Schritt, und auf Lodeshs leichte Hilfen hin setzte es seinen Weg bis zu einem Haus fort, das von einem ungewöhnlich großen Garten umgeben war, der obendrein an einen der offenen Streifen Land in dieser Stadt angrenzte.
Zu Lodeshs Überraschung flackerte Licht hinter den Vorhängen. Leise sprang er vom Pferd. Hinter dem Haus war ein freudiges Schnauben zu hören, und Graus warf den Kopf hoch und hätte Lodesh beinahe umgerannt in seiner ungeschickten Hast, einen ehemaligen Stallgenossen zu begrüßen. Lodesh, der nun sicher war, dass Graus nicht auf Wanderschaft gehen würde, wandte sich den breiten, rissigen Stufen vor der Haustür zu. Er trat über die
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