Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
Schuld.
Offenbar spiegelten sich diese Gedanken auf ihrem Gesicht wider, denn Earan straffte triumphierend die Schultern. »Siehst du«, fuhr er auf. »Sie weiß, dass sie Mav getötet hat, genauso sicher, als wenn sie ihr Gift verabreicht hätte.«
»Verschwinde, Earan.« Lodeshs Stimme war beängstigend kalt.
Die Anspannung im Raum wurde unerträglich. Das Geflüster im Flur verstummte erwartungsvoll.
»Sag mir nicht, was ich zu tun habe – kleiner Bruder.« Earan trat näher. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Raus hier«, verlangte Lodesh, »bevor du etwas tust, das so dumm ist wie dein Gerede.«
»Du glaubst wohl, du könntest mich dazu zwingen?« Earans Gesicht verzerrte sich, als Lodesh vor seinen Bruder trat, so dass sich ihre Füße beinahe berührten; Earan ragte drohend über Lodesh auf. Alissa hielt verängstigt den Atem an. Lodesh rührte sich nicht, und schließlich trat Earan zurück. »Ich gehe«, sagte er mit verächtlichem Schnauben, und Alissa stieß den Atem aus. Dann erstarrte sie, als sie spürte, wie ein Bann aufgebaut wurde. »Nachdem ich als Bewahrer Gerechtigkeit geübt habe.«
»Earan! Nein!«, schrie Nisi entsetzt vom Flur aus.
»Sei kein Narr!«, rief Lodesh.
»Es ist mein Recht!«, brüllte Earan. Mit wutverzerrtem Gesicht sandte er einen Energiestoß gegen sie aus. Ein Blitz zuckte auf und ein lauter Donnerschlag war zu hören, als Alissa den Angriff in einen Lichtbann umlenkte, während Lodesh das Gleiche mit einem Lautbann tat. Ihr Herz hämmerte, und sie wich an den Kamin zurück, entsetzt darüber, dass Earan sie angegriffen hatte.
»Aufhören!«, schrie Nisi in der Tür, beide Hände auf die Ohren gepresst. »Hört auf, ihr beiden!«
Earans Gesicht war eine Fratze. Alissa spürte das Zupfen eines weiteren Banns und schnappte nach Luft, um die anderen zu warnen.
Redal-Stan erschien neben Nisi. »Bei den Wölfen meines Herrn, was ist hier los?«
Earan fiel beinahe um, so hastig wirbelte er herum. »Es ist mein gutes Recht!«, brüllte er hitzig. Dann fasste er sich. Die Resonanz seines Banns auf Alissas Pfaden verschwand.
Niemand sprach ein Wort, während Redal-Stans ärgerlicher Blick von Earans schmutzigen Stiefeln über Nisis aufgerissene Augen, Alissas verängstigte Miene und Lodeshs angespannte Haltung schließlich zu Mav glitt, die bewusstlos auf dem Bett lag. Sein Kiefer verkrampfte sich, und er sah plötzlich alt aus. »Hätte wohl jemand die Güte«, knirschte er, »mir zu erklären, warum man mich mit Geschichten über wild gewordene Menschen im Bewahrer-Trakt aus meinen Studien gerissen hat?«
Earan strich sich über den Bart und blickte finster um sich.
»Ich verstehe.« Redal-Stan betrat das Zimmer und baute sich mittendrin drohend auf. »Earan«, wandte er sich an den großen Mann, »du bist von deinen Pflichten entbunden, und zwar für mindestens vier Tage von heute an. Du darfst deine neu gewonnene Freizeit nutzen, um die Vordertreppe abzukratzen.«
»Die Vordertreppe!« Earan wich empört einen Schritt zurück. »Das ist eine Strafe für Schüler!«
Redal-Stan trat vor ihn hin. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt, und Alissas Augen weiteten sich. »Wie ein solcher hast du dich ja auch aufgeführt.« Earan öffnete den Mund. Redal-Stan trat einen weiteren, beängstigenden Schritt vorwärts und zog die nicht vorhandenen Augenbrauen hoch. Nur einen Fingerbreit vom Gesicht des verblüfften Earan entfernt, flüsterte er: »Möchtest du das ausführlicher diskutieren – Bewahrer?«
Earan wurde bleich und schluckte schwer. Einen Moment lang bohrte sich sein Blick in Alissas, und sie erschrak über den glühenden Hass darin, dann stürmte er mit polternden Schritten hinaus.
Redal-Stan seufzte. »Nisi?«, sagte er sanft, und sie fuhr zusammen. »Bitte Kally darum, mir das Frühstück hierherbringen zu lassen, sei so gut. Ich werde eine Weile brauchen, bis ich sämtliche Strafen verhängt habe, und ich möchte nicht, dass mein Frühstück inzwischen kalt wird.«
»Ja, Meister Redal-Stan«, sagte sie und schlüpfte hinaus. Die übrigen Bewahrer folgten ihr leise murmelnd.
Gebeugt trat Redal-Stan zu Mav. Alissa spürte einen Anflug von Hoffnung. Gestern hatte er nicht helfen können. Aber vielleicht konnte er es heute.
Der Meister beobachtete, wie Mavs Pupillen sich zusammenzogen, als er ihre Lider anhob, und er zählte ihre Atemzüge und Herzschläge. Er befühlte ihre Wange. Mav schien zu schlafen, so tief und fest, dass nichts sie wecken
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