Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
Als Alissa den fernen Dächern von Ese’ Nawoer den Rücken zuwandte und den Blick über die vertrauten Wände ihres Zimmers schweifen ließ, fühlte sie Zufriedenheit.
Das Bett sah fast genauso aus, obwohl die Tagesdecke gewiss schon bessere Zeiten gesehen hatte. Vor dem Kamin stand etwas, das einmal ein Stuhl gewesen war. Jetzt taugte er höchstens noch als Feuerholz. Auch die anderen Möbel waren bunt zusammengewürfelt und alt. Nur die Wandborde über dem Kaminsims hatten noch einen gewissen Glanz, der nun zum Vorschein kam, da Mav sie energisch abstaubte. Es schien, als sei dies die vergessene Kammer, wo alle alten Möbel landeten, wenn neue ins Haus kamen.
»Das Zimmer nebenan ist ebenfalls leer«, sagte Mav und setzte ihre Bemühungen fort, obgleich nirgends Staub lag und sich auch nie welcher absetzen würde. »Niemand hat daran gedacht, dir diese Zimmer anzubieten, weil sie einen gemeinsamen Rauchabzug haben.«
»Das macht mir nichts aus.« Alissa schüttelte die mottenzerfressenen Vorhänge. Immer noch kein Staub. Die allnächtliche Reinigung der Feste, die sich damit selbst von Staub befreite, war ein Segen.
»Da wärst du die Erste«, lautete Mavs spitze Erwiderung. »Lassen zwei gute Zimmer leer stehen, weil man ja hören könnte, wie der Nachbar sein Feuer schürt.«
»Nebenan ist doch niemand«, sagte Alissa. »Da könnte man doch wenigstens einen der beiden Räume benutzen.«
»Nicht diese Bewahrer«, erwiderte Mav verächtlich. »Furchtbar überempfindlich, wenn du mich fragst. Stören sich ständig an diesem und jenem.« Dann blinzelte sie und lächelte Alissa mit ihren klaren, alten Augen an. »Anwesende selbstverständlich ausgenommen.«
Alissa grinste. »Selbstverständlich.«
»Es überrascht mich, dass Lodesh, der gute Junge, dir diese Gemächer nicht selbst gezeigt hat. Sein Zimmer liegt nur drei Türen weiter«, murmelte Mav, zog die Bettdecke weg und stellte fest, dass sich darunter kein Laken befand. »Gut, dass ich sauberes Bettzeug mitgebracht habe«, sagte sie und riss die Decke mit solcher Begeisterung von der Matratze, dass Alissa es nicht über sich brachte, ihr zu sagen, wo sie üblicherweise schlief – in einem Sessel vor dem Feuer.
Alissa nahm die Bettdecke, die Mav ihr reichte. »Lodesh ist in der Stadt geblieben«, bemerkte sie. »Hat Kally es Euch nicht erzählt?«
»Nein.« Mav breitete das Laken mit einer schnalzenden Bewegung über das Bett, und es sank mit beneidenswerter Präzision darauf nieder. »Die Kleine hat kaum zwei Worte mit mir gewechselt, als sie zurückkam. Hat etwas von Kartoffeln gemurmelt und ist im Lagerkeller verschwunden. Hat sie ihren Grauen nicht bekommen?« Sie wandte sich um, und ihre grünen Augen glitzerten zornig.
»Oh doch«, versicherte Alissa ihr hastig. Dann wurde sie still, denn sie machte sich Sorgen um Lodesh. Der Verlust seines Vaters würde hart für ihn sein, auch wenn sie sich entfremdet hatten.
Mav brummte erleichtert, und gemeinsam schüttelten sie die Bettdecke aus. Das kratzige Geräusch von Wolle lag in der Luft. »So, das wäre geschafft«, sagte Mav und klopfte das grässliche, winzige Kissen auf. »Am Ende des Flurs ist ein Abtritt«, sagte sie und bückte sich mühsam, um unter das Bett zu schauen. »Aber du hast einen Nachttopf hier, wenn dir das lieber ist. Kannst du deine Fenster selbst trocken bannen, wenn es regnet?«
Alissa verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Nutzlos hatte ihr noch nicht gezeigt, wie das ging, weil es »nicht notwendig« war. Aufheben konnte sie solche Banne allerdings, weil er nicht riskieren wollte, dass sie gegen einen mit Bannen belegten Balkon krachte.
Mav, die am Bett stand, runzelte nachdenklich die Stirn. »Kein Grund, noch mehr Öl in Earans Feuer zu gießen. Lass sie dir von Lodesh bannen, bis Redal-Stan die Situation geklärt hat.« Sie räusperte sich grollend. »Wenn er es denn je tut. Die gedankenlose Bestie denkt selten an irgendetwas, das nicht mit ihrer eigenen Bequemlichkeit zu tun hat.«
Alissa nickte. Es war ihr peinlich, solche Unwissenheit zugeben zu müssen.
»Warte nur, bis ich Lodesh in die Finger kriege. Dieser Spitzbube, lässt dich und Kally ganz allein nach Hause reiten. Ich dachte, ich hätte ihn besser erzogen.«
»Reeve hat uns begleitet«, sagte Alissa und schichtete für später Feuerholz im Kamin auf. »Earan hat Lodesh wirklich keine andere Wahl gelassen.«
»Earan? Was war mit Earan?«
Alissa meinte, dass sie sich bald mehr Holz würde
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