Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
aschfahl. Er blieb, wo er war, und zog seine rote Schärpe zurecht.
»Geh auf mein Zimmer, und warte dort, Grünschnabel!«, schrie Redal-Stan mit hochrotem Kopf.
Alissa war es peinlich, diesen Streit mit anzuhören, und sie räusperte sich. »Würde mir bitte jemand erklären, was huckepack bedeuten soll?«
Das Schweigen war so tief, dass sie den Gesang der Gärtner von draußen hören konnte. Redal-Stan und Connen-Neute wechselten angespannte, beinahe verlegene Blicke. Der ältere Meister war immer noch zornig, doch offenbar hatte ihre Frage den Streit vorerst aufgeschoben. Steif und nervös, stand Connen-Neute dennoch mit einer beneidenswert fließenden Bewegung auf und trat ans Fenster. Er wandte ihnen den Rücken zu und betrachtete den nebligen Morgen. »M-m-m«, brummte Redal-Stan. »Talo-Toecan hat dir also nie erklärt …«
»Ich weiß es nicht«, gestand sie und fragte sich, ob sie irgendeine ungeschriebene Regel gebrochen hatte. »Wenn Ihr mir sagt, worum es dabei geht, kann ich Euch sagen, ob ich etwas darüber weiß.«
Redal-Stan verzog das Gesicht. »Schön … äh … wenn Talo-Toecan dir die schwierigeren Banne beibringt, ist er mit seinem Bewusstsein in deinen Gedanken, aber ganz entschieden getrennt von deinem Bewusstsein. Nicht wahr?« Sie nickte, und er fügte hinzu: »Äh, huckepack ist … äh … noch näher als das.«
»Wie nah?«, fragte sie rasch.
»Dein gesamtes emotionales Befinden wäre für den anderen offen.« Sein Blick huschte zu Connen-Neute und wieder zurück. »Stell es dir etwa so vor, als stündest du nackt mitten im Raum.«
»Ich verstehe.« Alissa runzelte die Stirn. »Lieber nicht. Ich werde Mavoureen allein finden.«
Connen-Neute wirbelte herum, wobei seine lange schwarze Weste sich elegant bauschte. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht, Alissa.«
»Bedauerlicherweise hat er recht«, stimmte Redal-Stan mit unglücklicher Miene zu. »Ich will dich nicht belügen. Es besteht die Möglichkeit, dass eure Gedanken sich vollkommen durchdringen, aber es geschieht nicht zwingend. Das ist eine Frage der Selbstbeherrschung, die beide Beteiligte besitzen oder eben nicht.«
»Also«, überlegte Alissa laut, »ist es eher so, als stünde man nackt mitten in einem Zimmer, und alle versprechen, die Augen nicht aufzumachen.«
Redal-Stan stieß den Atem aus. »So ist es. Aber die Strafe dafür, dass einer doch guckt, ist viel schlimmer als bloße Peinlichkeit. So etwas bringt unausweichlich tiefen Hass hervor. Schonungslos ausgedrückt: Einer von euch beiden könnte irgendwann den anderen töten, denn niemand will es riskieren, dass seine tiefsten, innersten Ängste enthüllt werden.« Alissa wusste, dass sie blass geworden sein musste, als er ihr ernst zunickte. »Aber zunächst einmal«, fuhr er fort, »müsstest du dich davon abhalten können, ihn auf der Stelle zu attackieren. Du«, er wandte sich Connen-Neute zu, »bist noch nie unter so schwierigen Bedingungen geprüft worden, und du auch nicht.« Nun zeigte er mit dem Finger auf sie. »Deine Grenzen kenne ich überhaupt nicht.«
»Ich werde nicht gucken«, versprach Connen-Neute kleinmütig.
»Das ist die geringste meiner Sorgen.« Der alte Meister seufzte.
Alissa holte tief Luft. Sie wollte es nicht riskieren, dass Connen-Neute Bestie entdeckte. Aber wenn ihr Vorhaben gelänge, hätte die Feste wieder einen Meister, der zu einer solchen Rettung befähigt war, ganz zu schweigen davon, dass sie Mavoureen dem Tod entreißen konnten. »Du hast dieses Huckepack schon einmal gemacht?«, fragte sie Connen-Neute.
»Nein.«
Alissa ertappte ihre Finger dabei, wie sie an einer Haarsträhne zwirbelten, und zwang sich, die Hände in den Schoß zu legen. »Dann sollte ich es vielleicht lieber Redal-Stan zeigen.«
»Mir!« Der Ausruf klang zutiefst entsetzt. »Wolfstränen und Jammer, auf gar keinen Fall.«
Sie wandte sich Connen-Neute zu. »Aber du würdest es tun?«
Connen-Neute zuckte mit den Schultern. »Ich bin zu jung, um irgendwelche Geheimnisse zu haben.«
Alissa runzelte die Stirn. »Bestie?«, fragte sie ganz leise. »Kannst du dich vor ihm verborgen halten?«
»Ich weiß nicht«, gestand sie. »Aber falls er mich sieht, wird er dann nicht denken, ich sei du?«
Alissa dachte darüber nach und begegnete dann Connen-Neutes begierigem, erwartungsvollem Blick. Sie sank in sich zusammen, als ihr klar wurde, dass sie vor wenigen Augenblicken den gleichen Ausdruck auf dem Gesicht gehabt haben musste. »Können wir es
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