Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
dem Tee, der bereits eingeschenkt in zwei Bechern dampfte. Sie rang mit Kanne und Teller, lugte unter den Deckel, der ihr Frühstück verbarg, und fand … nichts. » Äh – na schön«, sagte sie mit erzwungener Fröhlichkeit. Innerlich verfluchte sie Kally und deren fehlgeleitete Versuche, sie zu verkuppeln, während sie zu ihm hinüberging. »Wie … wie geht es Euch heute?«, fragte sie zögerlich und dachte dabei an seinen Vater.
»Es geht mir gut, danke.« Er schenkte ihr ein hastiges, steifes Lächeln und half ihr die flachen Stufen hinab. Diese einfache Geste weckte in ihr die Erinnerung an Strell und ihr gemeinsames Abendessen hier, unter den Sternen im vergangenen Winter. Damals war es auch neblig gewesen. Ihre Miene erstarrte, und sie blickte mit zusammengekniffenen Augen in den hellen Nebel auf, um ihr Elend zu vertuschen, indem sie abzuschätzen versuchte, ob die Sonne heute wohl noch hervorkommen würde.
Lodesh zögerte und räusperte sich. »Lasst Euch den Teller abnehmen«, erbot er sich, und sie bemerkte sein besorgtes Lächeln. Das Klappern von Geschirr wurde vom grauen Nebel verschluckt, als er zum Löffel griff und ihnen auftrug. Den Hunden des Navigators sei Dank dafür, dass Lodesh hier ist, dachte sie und zog die Füße unter sich. Sonst würde sie endgültig den Verstand verlieren.
»Alissa?« Lodesh unterbrach ihre Gedanken, und sie nahm eine Schüssel voll Blaubeeren entgegen.
»Danke«, sagte sie mit einem Löffel voll Beeren im Mund. »Ich habe keine Blaubeeren mehr gegessen seit – ist nicht so wichtig.« Seit sie und Strell die Blaubeeren in der Nähe des Brunnens gefunden hatten, beendete sie still für sich den Satz und starrte ins Nichts.
Lodesh holte tief und entschlossen Luft. »Ihr denkt an Strell, nicht wahr?« verlangte er zu wissen.
Alissa nickte kläglich. »Ich vermisse ihn, Lodesh. Wenn Ihr da seid, kann ich ihn vergessen. Aber dann muss ich wieder an ihn denken, und …« Sie blinzelte und wandte den Blick ab. Sie wusste, wenn sie zuließ, dass er sie weinen sah, würde Lodesh sie trösten. Und jegliche Zurschaustellung von Mitgefühl würde sie nur umso mehr zum Weinen bringen.
»Ihr hattet eine gemeinsame Zukunft geplant?«, fragte er, doch es klang eigentlich nicht wie eine Frage.
»W-wir haben es versucht«, stammelte sie, den Blick auf die Hände gesenkt, die ihre Schüssel umklammerten.
»Ach, Alissa«, murmelte er. »Ihr braucht nur Zeit.«
»Davor fürchte ich mich ja so!«, heulte sie auf, denn sie konnte sich erst jetzt eingestehen, was all die innigen Blicke und Gesten des Lodesh, den sie in der Zukunft kennen gelernt hatte, in Wahrheit bedeuteten. Verflucht sollte er sein. Er hatte es gewusst. Er hatte gewusst, dass sie sich in der Zeit verlaufen würde, und er hatte sie nicht gewarnt. Aber auf den Lodesh, der hier vor ihr saß, konnte sie nicht zornig sein. Er wusste ja nichts davon.
Offensichtlich verwirrt, zog Lodesh sich zurück und wandte sich seinem Frühstück zu, um ihr Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fassen. Der schrille Gesang einer Zikade war zu hören, und er stellte seine Schüssel beiseite. »Hat Redal-Stan Euren Unterricht am Vormittag beibehalten?«, fragte er, ein offenkundiger Versuch, das Thema zu wechseln.
Alissa wischte sich die Augen und nickte. Sie wusste, dass sie rot waren, und wollte ihm nicht ins Gesicht sehen.
»Dann würde ich Euch gern zu einer kleinen Zusammenkunft heute Abend einladen.«
Eine Warnung, wohin das führen könnte, durchlief sie wie ein Schauer. »Ich weiß nicht«, erwiderte sie.
»Wir feiern im Hain«, sagte er voller Zuversicht, und Alissa blickte in seine blitzenden Augen auf.
»Tatsächlich?«, hauchte sie erwartungsvoll, doch dann verzog sie das Gesicht. »So viele Leute.«
»Nach Sonnenuntergang«, fuhr er fort. »Nur ein kleines Fest. Geladene Gäste. Tagsüber hat die ganze Stadt Zutritt, doch die Zitadelle hat diesen Abend für sich beansprucht. Es werden nicht viele Leute dort sein. Nur ein wenig Tanz und Musik.«
Aber Musik erinnerte sie an Strell, und sie schob ihre Blaubeeren mit dem Löffel herum. Überrascht blinzelte sie, als Lodesh ihr Kinn anhob. »Musik erinnert Euch an Strell?«, fragte er, und Alissa lächelte traurig. »Dann werden eben Geschichten erzählt«, erklärte er, und sie verzog das Gesicht. »Das auch, ja?«, bemerkte er leise. »Köstliches Essen«, begann er und ließ dann in gespielter Traurigkeit den Kopf hängen. »Nein«, sagte er trübselig und winkte
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