Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
nach Ese’ Nawoer. Der Tod des Stadtvogts war nicht in Vergessenheit geraten – sein Volk hatte sich nur auf diese Chance gestürzt, ein wenig Trost zu finden. »Also«, sagte sie, »eigentlich hatte ich gehofft, ich könnte im Garten essen.«
Mav hörte auf, den Teig zu verprügeln, und runzelte missbilligend die Stirn. »Du willst Earan doch nicht noch länger aus dem Weg gehen …«
Kally erschien zu ihrer Rettung, einen abgedeckten Teller in der Hand. »Earan ist schon draußen auf der Vordertreppe. Alissa will nur das bisschen Zeit, das ihr vor dem Unterricht noch bleibt, nicht in einem überfüllten Saal verbringen.«
»So ist es«, sagte Alissa erleichtert und nahm den Teller entgegen.
»Ich habe keinen Augenblick Sonne mehr bekommen seit – seit einer Ewigkeit«, beendete sie den Satz lahm, um nicht auf Mavs zweitägigen Todesschlaf hinzuweisen.
Mavs strenge Miene zerschmolz. »Verstehe. Aber ich glaube nicht, dass du heute Morgen viel Sonne abbekommen wirst. Wir wohnen derzeit in einer Wolke.«
»Trotzdem«, sagte Alissa mit einem wehmütigen Seufzen, »es ist einfach zu laut dort drin.«
Mav begann damit, den Teig in gleich große Klumpen zu teilen. »Reden, reden, reden«, murrte sie. »Das ist alles, was diese Bewahrer tun. Niemand sagt denen mal, dass sie still sein sollen. Sie sind schlimmer als die Schüler.« Sie hielt inne. »Anwesende selbstverständlich ausgeschlossen.«
Alissa grinste. »Selbstverständlich«, erwiderte sie, und Kally verdrehte die Augen zur Decke.
Sie reichte Alissa eine Kanne und einen Becher und ging voran zur Gartentür. »Ich wollte mich noch einmal bei Euch bedanken«, flüsterte sie, als sie Alissa die bunt bemalte Tür aufhielt.
Alissa warf einen verstohlenen Blick auf Mav, die nun eine nichtsnutzige Küchenhilfe anschrie, weil die den Pudding für heute Abend hatte anbrennen lassen. »Dank mir nicht dafür«, sagte Alissa. »Ich habe sie dorthin gebracht.«
Kally sah sie flehentlich an, und Alissa erkannte, dass das Küchenmädchen sich ebenfalls Vorwürfe machte – wenn sie den Dank annahm, würde Kally sich nicht schuldig fühlen müssen. Also nickte Alissa. Kally drückte Alissa verlegen an sich und wandte sich ab. »Mav«, rief Kally, als sie die Tür zuzog. »Warte, ich helfe dir.«
Alissa wusste nicht recht, was sie empfinden sollte. Sie balancierte ihr abgedecktes Frühstück in der einen Hand, die Teekanne in der anderen und ging den gepflegten Pfad entlang. Feuchtes Grau streifte ihre Haut, als der Nebel sie umwaberte und sich in kleinen Tautropfen auf ihren Wimpern niederließ. Seine dämpfende Sanftmut beruhigte sie ebenso sehr wie der Anblick der vertrauten Pflanzen.
Der mentale Lärm in der Feste war Schwindel erregend. Nur in dem flüchtigen Augenblick vor Sonnenaufgang schien er sich kurz zurückzuhalten. Alissa hatte sowohl den Garten als auch die Keller als unerwartete Oasen entdeckt, denn die dicken Mauern der Feste hielten einen Großteil der fremden Gedankenflut ab.
Während sie sich gestern in eines der Kellerlager verdrückt hatte mit der Ausrede, sich ein neues Kopfkissen suchen zu wollen, war sie auf Breve gestoßen, der nach silbernen Knöpfen für Earan suchte. Sie hatte sich in dem riesigen Lagerraum allein und unbeobachtet gewähnt, und Breves Grinsen, nachdem er sie leise etwas singen gehört hatte, das nur ein Tavernenlied sein konnte, hatte ihr bewiesen, dass das Misstrauen des nüchternen Mannes endgültig verflogen war. Das Lied war »Taykells Abenteuer« gewesen, und das Ganze war Alissa entsetzlich peinlich. Als sie gegangen war, hatte Breve bereits begeistert neue Strophen über den unglückseligen Reisenden gedichtet. Seine geschulte Stimme hatte ohne jede Rücksicht auf Sittsamkeit von der hohen Decke widergehallt. Es überraschte sie nur, dass Breve das Lied vorher gar nicht gekannt hatte.
Der Gesang einer Zikade unterbrach die Stille – er schien von überall her zu kommen. Seltsam, dachte sie, während sie langsam über den Kiesweg ging. Zikaden sangen normalerweise nur, wenn es heiß war. Sie kam um die letzte Biegung und blinzelte erstaunt. Lodesh saß an der Feuerstelle und zappelte unruhig herum. Nervös?, dachte sie. Das wäre ja etwas ganz Neues. »Lodesh?«, rief sie, und er fuhr zusammen, drehte sich um und strahlte sie an.
»Guten Morgen, Alissa.« Seine Stimme klang tief und einladend. »Würdet Ihr mir zum Frühstück Gesellschaft leisten?«
Alissas Blick huschte zu den Blaubeeren, Hefeküchlein und
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