Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
zusammengekniffenen Augen in die untergehende Sonne und hob eine Hand vor Augen, um ihn besser sehen zu können.
»Du hast dich verlaufen«, erklärte er. »Also wolltest du nach Hause.«
»Ist es nicht herrlich?« Alissa ließ den Blick über die offene Wiese schweifen. »Dort drüben bei dem Erdrutsch wird der Winterstall für die Schafe hinkommen. Das Haus«, sie blickte windaufwärts, »wird da stehen, wo jetzt diese Tannen sind. Der Brunnen kommt dahinter, etwa da, wo dieser Bach fließt.« Alissa hielt inne. Der Bach war in ihren Erinnerungen an zu Hause nicht vorhanden, aber ihr Papa hatte den Brunnen genau da gegraben, wo er hindurchfloss. Stirnrunzelnd wandte Alissa sich Connen-Neute zu. »Wir sitzen im Küchengarten, und auf diesem Felsen«, sie tätschelte ihn, »werden sich die Schlangen sonnen.«
Zutiefst niedergeschlagen sank Alissa in sich zusammen. Die Wölfe des Navigators sollten sie jagen. Dieser Besuch war noch trauriger als damals, als Nutzlos sie zum Hof ihrer Eltern begleitet hatte, um ihrer Mutter zu sagen, dass es ihr gutging. Der Hof war verlassen gewesen: Die Schafe waren weg, die Felder lagen brach, das Haus war leer. Aber die Hühner waren noch da. Alissa fand einen Brief, in dem ihre Mutter erklärte, sie sei ins Tiefland zurückgekehrt, und mütterliche Gefühle zum Ausdruck brachte, die Alissa zu Tränen rührten. Nutzlos hatte sie mit dem Versprechen getröstet, er werde ihr helfen, ihre Mutter zu finden, sobald sie genug gelernt habe, um die geistige Signatur ihrer Mutter unter den Gedanken tausender anderer Tiefländer herauszupicken. Für Alissa hatte das damals bedeutet: praktisch nie. Jetzt blieb ihr nicht einmal diese schmale Hoffnung.
Unter dem Rascheln grauer und schwarzer Seide setzte sich Connen-Neute zu ihr auf den Felsen. »Ich bin im Hochgebirge aufgewachsen«, erzählte er, den Blick auf die nahen Gipfel gerichtet. »Mir war irgendwie immer kalt, aber so war es viel sicherer. Ein Raku-Kind muss von den meisten Resonanzen anderer neuronaler Netze abgeschirmt werden, damit es sich nicht viel zu früh einen Bann abguckt.« Sie sah ihn verständnislos an, und er fügte hinzu: »Würdest du einem Kleinkind einen Feuerbann beibringen?«
Sie schüttelte den Kopf und verstand nun endlich, warum ihr Papa stets verschwiegen hatte, dass er ein Bewahrer gewesen war. »Jeglicher Kontakt, außer mit den Eltern, wird auf ein Minimum beschränkt«, fuhr Connen-Neute fort, »bis ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung erreicht ist, so dass man mit Verlockungen umgehen kann.«
»Klingt einsam«, sagte sie und dachte an ihre eigene Kindheit, in der es Freunde ebenfalls nur in ihrer Fantasie gegeben hatte.
Connen-Neute zuckte mit den Schultern. »Das war es auch, vor allem später, aber so bin ich groß geworden, und ich würde nichts daran ändern wollen. Sobald man der Meinung war, dass ich meine Impulse im Griff hatte, wurde ich in die Gesellschaft eingeführt. Da war ich ungefähr dreißig.«
»Das ist schrecklich«, sagte sie mitfühlend und überlegte zugleich, wie alt er sein mochte. Er sah nicht aus wie dreißig.
Er richtete den undurchdringlichen Blick auf sie und sagte: »Aber so war es sicherer. Ich bin das einzige Kind meiner Generation, das die ersten dreißig Jahre überlebt hat.« Alissa fuhr zusammen und bemühte sich, nicht allzu entsetzt dreinzublicken, und er fügte hinzu: »Alle meine Geschwister haben wir verloren. Einige bei Flugunfällen. Ein junger Raku hat keine gute Koordination, und bis wir etwa fünfzehn sind, bleiben wir sehr klein, nicht größer als ein Pony. Wenn dann das Wachstum einsetzt, geschieht das geradezu explosionsartig, und es ist sehr schwierig, mit den Veränderungen von Masse und Schwung umzugehen. Aber ein paar«, seufzte er, »haben wir verloren, als sie ihr neuronales Netz entdeckten und begannen, damit herumzuspielen. Das waren die schlimmsten Todesfälle«, endete er ernst.
Alissa brachte kein Wort heraus. Die Sorgen ihrer Kindheit waren nichts dagegen.
Connen-Neute regte sich und zupfte mit seinen langen Fingern den Kragen zurecht. »So habe ich meine Selbstbeherrschung gelernt. Aus ihren fatalen Fehlern. Wo hast du deine her? Sie ist beachtlich, vor allem, da du von einer Gemeinen großgezogen wurdest.«
Alissa schüttelte sich. »Äh – zunächst von meiner Mutter«, sagte sie, und er lächelte wissend. »Aber ich musste mir erst so schlimm die Pfade verbrennen, dass ich beinahe daran gestorben wäre, ehe ich erkannte, wie
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