Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
Ihr Elend, diese schmerzende Leere, kam ihr hier schlimmer vor, als wenn sie von Menschen umgeben war. Sie holte Luft und hielt den Atem an, bis sie nicht mehr konnte. Lange störten nur die Grillen und ihr gelegentliches, heiseres Luftschnappen die nächtliche Stille. Die Sonne war untergegangen, das grelle Licht einem besänftigenden Grau gewichen. Sie spürte ein Zwicken in ihrem Geist, und ein weiches Stück Papier wurde ihr in die Hand gedrückt. »Danke«, sagte sie mit zittriger Stimme.
»Es besteht hauptsächlich aus Stoff«, erklärte er und war offenbar froh, wieder etwas zu sagen zu haben. »Ich wollte herausfinden, wie weich ich Papier machen kann. Zeig es bitte nicht Redal-Stan. Sonst lässt er mich eine ganze Wagenladung davon herstellen.«
Alissa nickte und putzte sich mit dem Papier die Nase. »Ich sehe, dass es noch zu ganz anderen Sachen nützlich ist«, nuschelte sie und war froh über die Ablenkung.
Er seufzte, und Alissa wusste, dass er noch nicht mit ihr fertig war. »Finde dich damit ab, Alissa«, sagte er traurig. »Strell ist unerreichbar für dich. Du könntest davonfliegen und dich vierhundert Jahre lang verstecken, um ihn wieder aufzusuchen, wenn die Zeit aufgeholt ist, aber selbst dann wäre er für dich verloren. Du wärst eine Fremde für ihn.« Er warf ein Steinchen in die Wiese. »Vier Jahrhunderte hinterlassen nun einmal unauslöschbare Spuren.«
»Ja, das ist mir klar«, sagte sie, zu traurig und erschöpft, um zornig zu werden.
»Liebe kann sich, wie der Wind, aus vielen verschiedenen Quellen speisen. Wenn du dich damit abfindest, dass du ihn verloren hast, könntest du vielleicht einen anderen …«
»Connen-Neute!«, protestierte sie verlegen.
»… in Betracht ziehen«, beendete er unschuldig den Satz. Er schnippte ein Steinchen in die Wiese, und ein erschrockenes Quieken drang zu ihnen, als es eine Maus traf. Dann wurde er rot, hüstelte und legte sein letztes Steinchen vorsichtig zurück auf den Haufen. »Wirf bloß kein Auge auf mich«, fügte er hinzu, denn er hatte offenbar erkannt, welche Richtung ihre Gedanken genommen hatten. »Ich mag Bestie nicht. Sie ist zu – Asche, sie macht mir Angst.« Er erschauerte, versuchte dann so zu tun, als liege das an der kühlen Luft, und sah sie fürsorglich an. »Hättest du gern ein Feuer?«
»Nein«, sagte sie. Ihre Gedanken kehrten zu dem zurück, was er ihr über seine Kindheit erzählt hatte. Das war mehr, als Nutzlos ihr je an Erklärung geboten hatte. »Connen-Neute?«, fragte sie und überlegte, wie viel sie ihm wohl entlocken konnte. »Warum sprichst du nicht öfter? Du hast eine wunderschöne, dunkle Stimme.«
Seine Zähne schimmerten im schwachen Dämmerlicht, als er lächelte. »Ich habe die ersten fünfzig Jahre meines Lebens fast ausschließlich in der Gestalt verbracht, in der ich geboren wurde. Sprechen ist eine Gewohnheit, die man sich erst mühsam aneignen muss.«
»Fünfzig Jahre?« Alissa blieb der Mund offen stehen. Er sah aus, als sei er in ihrem Alter. »Wie alt bist du?«
»Diesen Winter einhundertsechzehn Jahre, aber Redal-Stan scheint zu glauben, ich sei nicht älter als sechzig.«
»Aber deine Ausbildung … hängt so weit hinter meiner zurück!«, stammelte sie.
Connen-Neute grinste sie von der Seite an, riss lässig ein Büschel Gras ab und begann, die Halme zu einer Kette zu flechten. »Eigentlich nicht.«
»Was soll das heißen, eigentlich nicht?«, fragte sie, denn ihr gefiel seine selbstgefällige Miene nicht.
Gänseblümchen, die im fahlen Licht geisterhaft weiß wirkten, kamen auch in das Band aus Gras, das er flocht. »Ich meine, ich würde darauf wetten, dass ich viel besser fliegen kann als du.«
»Kannst du nicht.«
»Besser jagen kann als du.«
Alissa schnaubte angewidert, denn das war ihr gleichgültig.
»Meine Banne sind zwar einfacher, dafür aber vermutlich schneller.«
»Das bezweifle ich!«, rief sie so laut, dass die Grillen erschrocken schwiegen.
»Sind sie doch.« Er biss heraushängende Halme von seinem Kunstwerk ab und hängte es ihr um den Hals.
Alisas verzog das Gesicht bei der Vorstellung, wie sie damit aussehen musste. »Jetzt bin ich wohl bereit für Lodeshs Zusammenkunft«, sagte sie. »Das arme kleine Mädchen aus dem Hochland hat einen neuen Hut und Aufsehen erregendes Geschmeide.« Sie schlug die Augen nieder und seufzte. »Gehen wir. Ich fühle mich hier irgendwie noch einsamer als auf der Feste. Aber wenigstens werden die Zikaden jetzt Ruhe geben, wenn
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