Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
führen. Er ließ den Vorhang vor die Türöffnung fallen und zog sie dann rasch in den Schatten der nahen Bäume.
Alissa folgte ihm und fragte sich, was er vorhaben mochte. Die Luft, die durch ihr leichtes Nachthemd drang, fühlte sich kühl an, und sie hielt Redal-Stans Uhr an ihrer Schnur um den Hals fest, damit sie nicht bei jedem Schritt mitschwang. Ihre Glöckchen lagen noch auf der Klippe, und ihre Schritte waren lautlos. Sie erschuf ein Licht, löschte es aber sogleich wieder, als er wild mit den Händen fuchtelte. »Nicht«, hauchte er ihr ins Ohr, so dass ihr ein Schauer über den ganzen Körper lief. »Ich versuche dich zu rauben.«
Sie starrte ihn an, und er grinste, dass seine Zähne im Mondlicht schimmerten. »Im Tiefland muss der zukünftige Schwiegersohn die Braut stehlen, wenn sie höheren Status besitzt als er, und symbolisch etwas Wertvolles an ihrer Stelle hinterlassen. Das wird natürlich alles arrangiert, aber die Tradition hat sich gehalten.«
Mit großen Augen blickte sie in Richtung ihrer Hütte zurück. »Deshalb also die –«
»Ja.« Er strich sich mit der Hand über den Bart und wandte sich ab. »Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erleben würde, da ein Hirdun-Töpfer einen Brautpreis auf einem Kopfkissen hinterlassen muss.« Er verzog das Gesicht. »Also, wirst du freiwillig mitkommen, oder muss ich dich tragen?«
Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Du wirst mich wohl tragen müssen.«
Er sah sie entgeistert an. »Den ganzen langen Weg bis zur Lagune?« Alissa runzelte verständnislos die Stirn, und er fügte hinzu:
»Der Kapitän wartet. Und Connen-Neute. Ich musste ihn einweihen, weil er dich ja immer finden kann, und außerdem ist er der perfekte Trauzeuge. Wir werden die Segel setzen und –«
»Ich kann nicht einfach fortgehen!«, rief sie in gedämpftem Flüsterton.
»– den Kapitän auf See die Zeremonie vornehmen lassen«, unterbrach Strell sie beruhigend, fasste sie an den Schultern und setzte sie wieder in Bewegung. »Dann wird er uns auf einer der kleineren Inseln in der Nähe absetzen. Uns bleiben gewiss ein paar Tage, bis ihnen klar wird, dass wir nicht auf der Hauptinsel sind, und sie die Suche einleiten.«
Aufregung durchfuhr sie. »Wir brennen durch?«, fragte sie und dachte daran, wie wütend Nutzlos sein würde. Aber sie hatten seine Bedingungen erfüllt, zu Asche sollten sie verbrannt sein. »Ich sollte mich umziehen …«, sagte sie.
»Du siehst gut aus«, erklärte er abwesend. »Und wir müssen uns beeilen. Außer natürlich, du würdest lieber hierbleiben und heute Morgen Unterricht bei Keribdis nehmen?«
Das gab den Ausschlag. Alissa warf den Kopf zurück, schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht und weigerte sich, sich von ihrer Angst vor dieser Frau die Vorfreude verderben zu lassen. Strell nahm sie bei der Hand. Sie spürte, wie seine Hand zitterte, und er packte fester zu. Er hielt sich so lange wie möglich im Schatten der Bäume und führte sie zum dunklen Strand, wo das verbliebene Beiboot der Albatros auf sie wartete.
Ihr Herz pochte laut, als er sie über die schwarzen Wellen trug und vorsichtig ins Boot setzte. »Hier«, sagte er, ließ sein Bündel neben sie fallen und schlug es auf. Ihre Decke, die sie seit gestern vermisste, wurde hervorgezogen und ihr um die Schultern gelegt.
Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. »Danke«, flüsterte sie, obwohl sie unmöglich jemand hören konnte, so laut brausten die Wellen. Die Nachtluft war warm, doch sie ließ die Decke, wo sie war. Seine Aufmerksamkeit gab ihr das Gefühl, geborgen zu sein und gebraucht zu werden. Außerdem war so ihr Nachthemd bedeckt.
Er sagte nichts, doch sein Lächeln war zuversichtlich, als er sich am Boot hochstemmte und vor sie hinsetzte. Das Ruderboot schaukelte wild, doch nach einigen angespannten Augenblicken wurde es wieder ruhig. Strell stieß erleichtert den Atem aus und schob sie mit einem Ruder ungeschickt in die Brandung. Der Rumpf schrammte über den Boden, dann war er frei, und Strell legte die Riemen ein und begann zu rudern.
Alissa beobachtete ihn einen Moment lang und wandte sich dann wieder seinem Bündel zu, um ihre Kleider herauszuholen. Sie konnte sie notfalls über ihr Nachthemd ziehen. Sie brachte es aber nicht über sich, das hier zu tun, wo er sie sehen konnte, also erhob sie sich und schwankte geduckt an ihm vorbei zum Bug hinter seinem Rücken.
»Was tust du denn?«, japste Strell, ließ die Ruder fallen und klammerte
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