Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
sprach. »Ein Unfall! Lasst sie die aschebedeckte Kette ablegen. Sie ist es! Ihr wisst, dass dies Alissa ist. Wenn sie verwildert wäre, wäre ich inzwischen tot, und sie wäre fort!«
Alissa erstarrte vor Angst. Die Spitzen ihrer Schwingen zitterten. Sie hörte ein Summen unverständlicher Konversation, und Connen-Neute entspannte sich. »Du darfst dich verwandeln«, sagte er. »Du hast Glück, dass Silla bei ihnen ist. Sie haben Angst, sich ihre Furcht vor Silla anmerken zu lassen.«
Furcht?, dachte Alissa. Sie war diejenige, die vor Angst zitterte. Alissa atmete tief durch und verwandelte sich. Sie ließ sich viel Zeit und sorgte dafür, dass sie in ihren besten Kleidern erschien. Augenblicklich wurde der Schmerz in ihrer Hand schlimmer. Ihr wurde übel, und sie sackte in den Sand.
Ihr Magen verkrampfte sich, als sie ihre Hand betrachtete. Der Verband war verschwunden, als sie sich verwandelt hatte. Hässliche violette und gelbe Flecken prangten auf ihrer Haut zwischen den roten Schnittwunden, wo Knochen zurück unter die Haut geschoben worden waren. Alissa atmete flach und keuchend. Sie würde die Hand nie wieder gebrauchen können.
»Hier«, sagte Connen-Neute und hielt ihr eine Schlinge hin. »Yar-Taw hat die Knochen gerichtet. Er hat dir auch einen Bann gegeben, der den Schmerz dämpft. Er hat gesagt, sie würde so verheilen, dass du sie wieder einigermaßen bewegen kannst. Er wird dir bestimmt einen neuen Verband machen. Aber du solltest dich nicht mehr verwandeln, bis das besser verheilt ist.«
Alissa drehte es den Magen um. Warum hatte er sich überhaupt die Mühe gemacht? Warum redeten alle, als gebe es für sie noch ein Morgen? Sie würden Alissa zwingen, Bestie zu zerstören. Was spielte all das also für eine Rolle?
Doch sie ließ sich von ihm helfen, die Schlinge über ihre Schulter zu legen und ihre Hand richtig darin zu betten. Der Schmerz, den sie trotz des Banns empfand, war so heftig, dass sie die Zähne zusammenbiss, bis sie schwarze Flecken sah, aber sie wollte nicht in Ohnmacht fallen. Keribdis beobachtete sie. Diese Befriedigung würde Alissa ihr nicht gönnen.
Sie keuchte beinahe, als sie endlich fertig waren. Der Wind kam ihr plötzlich kalt vor, und sie erschauerte. »Du hast versprochen, es niemandem zu sagen«, flüsterte sie.
Connen-Neute stieß langsam den Atem aus. Er blickte zu Sillas Felsen auf und wieder zurück. »Keribdis hat Bestie in deinen Gedanken erkannt. Wenn ich es ihnen nicht erklärt hätte, wärst du beim Aufwachen von dem gesamten Konklave umringt gewesen, das dich für verwildert gehalten hätte.«
»Sie werden mich ohnehin zwingen, sie zu töten!«, rief sie aus und senkte den Kopf, als ihr schwarz vor Augen wurde. »Das werde ich nicht tun«, flüsterte sie. »Das tue ich nicht, und das weißt du genau.« Sie versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht. Der Schmerz in ihrer Hand war beinahe unerträglich.
Connen-Neutes Blick war hart und entschlossen, als sie sich zurücksinken ließ. »Ich habe dir eine Chance verschafft, Alissa.« Er zögerte. »Es wird eine Versammlung geben«, fügte er ruhiger hinzu.
»Ein Gericht. Bezeichne es als das, was es ist!«, verlangte sie mit hämmerndem Herzen. Sie musste entkommen. Sie konnte zur Feste zurückfliegen. Sie könnte es schaffen. Warum hatte sie sich nur auf die Suche nach den anderen gemacht?
»Es ist kein Gericht«, erklärte er unbehaglich.
»Ich werde allein vor allen anderen stehen?«, fragte sie bitter. »Ich werde mich für meine Handlungen rechtfertigen müssen?« Connen-Neute wich ihrem Blick aus. »Dann ist es ein Gericht«, sagte sie.
»Es ist eine Versammlung, bei der du Gelegenheit bekommen wirst, die Mehrheit des Konklaves davon zu überzeugen, dass Bestie keine Gefahr für dich oder andere darstellt. Du brauchst nicht Keribdis zu überzeugen, sondern nur die Hälfte der –«
»Bis auf eine Handvoll gehören sie praktisch Keribdis!«, rief Alissa.
»Wenn dir das gelingt, wird man dir erlauben zu bleiben, wie du bist«, endete Connen-Neute.
»Und wenn es mir nicht gelingt?«, fragte sie, und ihr Magen zog sich zusammen.
Er sagte nichts, sah sie nicht einmal an.
Schweigen senkte sich auf sie herab. Alissa betrachtete ihre Hand in der Schlinge. Das Herz wurde ihr schwer, als sie merkte, dass sie ihren Ring verloren hatte. »Wo ist Strell?«, fragte sie. Ihr Ring – ihr Hochzeitsring – weg.
»In der Nähe, aber außer Sicht, damit sie ihn nicht verscheuchen.«
Ein eiskaltes Gefühl
Weitere Kostenlose Bücher