Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
näherten. »Dies ist ein Gericht«, sagte er, und Alissas Körper spannte sich an. »Aber du kannst diesen Tisch so frei wieder verlassen, wie du gekommen bist, wenn du im richtigen Aufwind fliegst.« Sie wollte sprechen, doch er hob die Hand. »Diese Vereinbarung zwischen dir und deinem wilden Bewusstsein … Du weißt, dass das nicht das einzige Thema ist, um das es Keribdis geht?«
Alissa nickte und blickte an ihm vorbei zu den Gestalten, die sich durch den Wald bewegten. Alle waren so hübsch gekleidet. Sie sah aus wie eine Bettlerin, selbst in ihren besten Gewändern.
»Keribdis führt ihren eigenen, persönlichen Krieg«, fuhr Yar-Taw fort, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihm zu. »Er hat schon lange vor deiner Geburt begonnen. Bei den Wölfen, ich glaube, er hat sogar schon begonnen, ehe die Feste erbaut wurde. Talo-Toecan steht auf der anderen Seite, und bedauerlicherweise bist du zum Streitpunkt zwischen den beiden geworden.«
»So ist es nicht«, protestierte Alissa und verstummte, als er erneut die Hand hob.
»Ob es so ist oder nicht, spielt im Grunde keine Rolle«, sagte er, und seine Worte wurden hastiger, je näher die Leute kamen. »Deine einzige Möglichkeit, dies hier zu gewinnen, besteht darin, nicht mit ihr zu streiten. Sie ist eine zur Dramatik neigende, verwöhnte alte Frau, die fast die gesamte Feste hinter sich hat. Versteh mich nicht falsch: Diese Anhängerschaft hat sie sich ehrlich verdient. Sie ist intelligent, listig und absolut gnadenlos, wenn sie etwas beschützt, das ihr teuer ist. Ich vermute, dass sie toben und Reden schwingen wird, und wenn du in gleicher Weise antwortest, wird man ihre Theatralik als gerechtfertigt ansehen und nicht als die Überredungstaktik, die tatsächlich dahintersteckt. Nur, indem du sie allein vor sich hin toben lässt, werden die Übrigen erkennen, wie irrational sie sich verhält.«
Er presste die Lippen zusammen und lehnte sich zurück, als die ersten Meister sich ihre Plätze suchten. »Ich bin auch nicht damit einverstanden, was du mit deinem bestialischen Bewusstsein getan hast, aber möglicherweise …« Er zögerte und warf einen Blick auf ihren zweiten Becher. »Vielleicht kann daraus auch Gutes erwachsen.«
»Ich danke Euch«, sagte sie und war erleichtert, weil ihr schien, sie habe doch jemanden auf ihrer Seite.
»Vielleicht mag ich auch nur keine Tyrannei«, fügte er hinzu.
Alissa konnte ihm nicht in die Augen sehen und wandte sich stattdessen der anschwellenden Menge zu. Silla hatte sich neben Connen-Neute gesetzt. Die junge Frau war bleich, und Alissa wünschte, sie hätte Silla die Sache mit Bestie erklären können. Was für Lügen Keribdis ihr erzählt haben mochte?
Alissa wandte sich an Yar-Taw. »Wo sind Strell und Lodesh?«, fragte sie.
»Sie halten sich am Rand, wie es ihnen ansteht«, erklärte Yar-Taw ernst.
Alissa unterdrückte einen Anflug von Gereiztheit, führte eine geistige Suche durch und war überrascht, Strell und Lodesh auf einem nahen Baum zu finden, wie Jungen, die heimlich mit ansehen wollen, wie ein Verbrecher gehängt wird. Sie sah näher hin und entdeckte Strells Hut, den Hut, den sie ihm vor so langer Zeit gegeben hatte. Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln und ein großer, blattartiger Wedel bewegte sich gegen die Windrichtung. Das verlieh ihr neue Zuversicht. Sie trank einen Schluck Wasser, doch ihre Finger zitterten, als sie den Becher wieder abstellte. Ihre andere Hand schmerzte trotz des Banns, und sie hielt sie schützend an ihre Brust.
»Bei den Wölfen«, brummte Yar-Taw, den Blick gen Himmel gerichtet. »Da kommt sie. Ich nehme an, das wird einer ihrer dramatischeren Auftritte.«
Es wurde laut, als alle sich einen Platz suchten. Alissa blickte mit zusammengekniffenen Augen in den hellen Mittagshimmel. Mit ihrer guten Hand strich sie sich eine Strähne aus den Augen. Scheinbar mitten aus der Sonne heraus nahte eine goldene Gestalt: Keribdis.
Bestie regte sich, als Alissa erschrak. Gemeinsam sahen sie zu, wie Keribdis einen Kreis zog und so weit weg landete, dass der Sand und die Gischt, die sie aufspritzen ließ, niemanden trafen. Der ältere Raku ließ den Blick über die Versammlung schweifen und nickte mehreren Meistern auf den Bänken zu. Alissa runzelte die Brauen, als sie die Verfärbung um das eine Auge bemerkte. Offensichtlich war die Heilung mit einem Bann um drei Tage beschleunigt worden. Das erscheint mir irgendwie nicht richtig, dachte Alissa ironisch. Als Alissa in der
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