Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Vergangenheit gewesen war, hatte sie Redal-Stan den kniffligen Bann gelehrt, der ihn wiederum allen anderen gezeigt hatte, Keribdis eingeschlossen.
Das unterschwellige Summen privater geistiger Unterhaltungen schwoll an. »Ich habe keine Angst vor ihr«, sagte Bestie in ihre gemeinsamen Gedanken, und eine Woge stolzer Genugtuung durchflutete Alissa, als sie die empfindlich aussehende Narbe an Keribdis’ Oberschenkel bemerkte.
»Ich schon«, entgegnete Alissa säuerlich.
Bestie räusperte sich grollend. »Sie kann uns nicht zu Boden zwingen. Sieh nur, wie fahl ihre Haut ist. Sie ist dünn vor Alter, nicht schlank vor Kraft. Sie besitzt nicht unsere Ausdauer.«
»Mag sein.« Alissa schob ihren Becher von sich. »Aber das hat uns nichts genützt, nicht wahr?«
»Sie hat gemogelt. Die da kann uns nicht fangen«, fügte Bestie hinzu, und Alissa spürte Hoffnung in sich aufkeimen. Sie konnte immer noch fliehen. Sollte Keribdis doch auf ihrer Insel vor sich hin schmollen. Bestie könnte sie an die Küste zurückbringen.
Doch im selben Augenblick dachte sie an Strell. Sie konnte ihn nicht hier zurücklassen.
Alissa spürte ein Zupfen an ihrem Geist, als Keribdis ihre kleinere menschliche Gestalt annahm. Kleiner, aber nicht weniger beeindruckend, befand Alissa und blinzelte überrascht, als die Frau in Erscheinung trat.
Keribdis war in extravaganten Gewändern erschienen, in Mustern und Farben, die zu erschaffen Alissa Jahre brauchen würde. Gold und Rot waren mit dunklem Grün und Bronze verwoben. Ihr obsidian-schwarzes Haar glänzte. Es war auf dem Kopf hochgesteckt, wie Silla ihr Haar auch oft trug, und die Bänder, die es hielten, flatterten in der steifen Brise. Ihre Schärpe war das einzig Unveränderte an ihrer Erscheinung, und sie zog Alissas Blick auf sich wie die Sonne. Das kraftvolle Scharlachrot war von so vielen Farben und Mustern umgeben, dass Alissa zunächst nirgendwo anders hinsehen konnte. Doch die Farbe war so lebhaft, dass sie den Blick schließlich abwenden musste.
Alissa betrachtete die Frau mit zusammengekniffenen Augen und erkannte ihre auffällige Kleidung plötzlich als übertriebene Kostümierung, die jemand tragen würde, der seine Vorstellung von seinem eigenen Wert schützen musste. Als sie auf ihre eigenen Gewänder hinabschaute, sah sie sie genauso. Das Haar wurde ihr ins Gesicht geweht, und sie wünschte, sie hätte es nach Hochland-Art schön kurz geschnitten. Sie wünschte, sie trüge auch ihre alten Kleider. Sie wünschte, sie hätte nie versucht, irgendetwas anderes zu sein als ein Bauernmädchen. Was, bei den Wölfen, tat sie hier überhaupt?
Keribdis schritt würdevoll über den heißen Sand zu Silla, wobei sie Alissa keinerlei Beachtung schenkte. »Silla, Liebes«, sagte sie und zog die junge Frau sanft auf die Füße. »Warum bist du hier?«
Sillas Kinn bebte, doch ihr Blick drückte Entschlossenheit aus. »Ich will bleiben«, sagte sie.
»Aber bis du deinen Namen in die Zisterne ritzt, hast du keine Stimme im Rat«, entgegnete Keribdis beschwörend. »Es gibt keinen Grund, weshalb du das hier mit ansehen müsstest. Geh und warte auf der Klippe. Ich werde dir erzählen, was geschehen ist. In allen Einzelheiten.«
Silla öffnete ungläubig den Mund. »Alissa ist meine Freundin«, sagte sie. »Ich will bleiben.«
Alissa spürte Erleichterung in sich aufwallen. Silla war noch immer ihre Freundin.
Keribdis zog die stolpernde Silla aus dem Kreis der anderen fort. »Silla.« Ihre Stimme klang härter. »Du brauchst das hier nicht zu sehen. Es geht dich nichts an.«
»Die geistige Gesundheit meiner Freundin geht mich nichts an?«
»Schülerin –«, begann Keribdis, und ihre Augen sprachen einen ernsten Tadel aus.
»Lass Silla doch bleiben«, unterbrach Yar-Taw Keribdis. »Sie gehört zu diesem Konklave, ob sie ihren Namen in irgendeine alberne Mauer geritzt hat oder nicht. Wenn du dich an die Traditionen der Feste halten willst, schlage ich vor, wir kehren dorthin zurück, damit wir es richtig machen können.«
Zustimmendes Gemurmel kam auf, und Alissa beobachtete befriedigt, wie Keribdis ihre Stirn zwang, sich zu glätten. »Du hast ein gutes Herz«, sagte sie zu Silla und umarmte sie rasch. »Wenn du dir solche Sorgen um deine neue Freundin machst, solltest du natürlich dabei sein. Dort hinten ist ein Platz frei.«
»Ich habe schon einen Platz«, sagte sie. Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern kehrte zu ihrem Kissen neben Connen-Neute zurück und ließ sich
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