Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
betrügst«, sagte sie durch Alissas Mund. »Aber du würdest dennoch verlieren, Jungtier«, fügte sie hinzu, ehe sie wieder verschwand.
Yar-Taw hob die Hand, um das sanfte Gemurmel zu unterbinden. »Genug«, sagte er mit nervösem Blick auf Alissa. »Wir haben Bestie gesehen und sie sprechen gehört. Was sagst du, Keribdis?«
»Ich will es tot sehen«, sagte Keribdis mit ausdrucksloser Stimme.
Alissa riss den Kopf hoch. Sie schluckte, und ihr wurde kalt. Die Meisterin spielte nicht mehr mit ihr. Der theatralische Auftritt war vorüber. Keribdis’ Angst, die Kontrolle über das Konklave zu verlieren, weil sie Alissa nicht beherrschen konnte, hatte alle anderen Gefühle aus ihr vertrieben, außer einer unverrückbaren Entschlossenheit. Sogar Keribdis’ Furcht war gewichen. Dies war es, wovor alle Alissa gewarnt hatten, doch sie hatte es nicht verstanden.
»Ich will es tot sehen«, wiederholte sie laut in die schockierte Stille hinein. »Das wilde Bewusstsein, das sich bei der ersten Verwandlung entwickelt, muss zerstört werden. Talo-Toecan hat versagt. Es muss jetzt getan werden.«
Keribdis trat vor, und Alissa wich, so weit es ging, auf ihrem Stuhl zurück. Ihr Wagemut war verflogen, als hätte es ihn nie gegeben. »Sie ist ein gefährliches Mischwesen«, sagte Keribdis. Sie beugte sich so tief über den Tisch, dass ihre langen Haarbänder ihn beinahe berührten. »Nicht wild, aber auch nicht ganz bei bewusstem Verstand. Sie trägt eine Krankheit in sich, der sie nicht erliegen kann, doch sie kann alle in ihrer Umgebung damit anstecken. Sie hat Connen-Neute verwildern lassen. Sie könnte dasselbe mit Silla tun.« Sie richtete sich auf und wandte sich der Menge zu. »Sie könnte dasselbe mit jedem von euch tun!«
»Nein!«, schrie Connen-Neute und stand auf. »So war das nicht.«
»Setz dich, Meister Connen-Neute!«, rief Yar-Taw über das anschwellende Gemurmel hinweg. Alissa blickte von Connen-Neutes gequälter Miene zu Sillas entsetztem Gesicht. Keribdis wusste, dass Silla auf Messers Schneide stand, und sie würde Alissa die Schuld an allem geben, falls das Mädchen verwilderte.
»Bestie ist keine Krankheit«, sagte Alissa laut, um das gewöhnliche und unhörbare Stimmengewirr zu übertönen. »Sie hat sich auch nicht bei meiner ersten Verwandlung in eine Meisterin entwickelt. Sie ist nichts Fremdartiges, das zerstört werden müsste. Sie war schon immer da, nur mit dem Rest von mir vermischt.« Die Meister wurden still und hörten zu, und Alissa holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Ich glaube, Bestie wurde zu einem eigenen Wesen abgespalten, als ich mich zum ersten Mal in einen Raku verwandelt habe. Bestie ist nicht bösartig, nur nicht am rechten Fleck. Genau wie die Bestie aller anderen. Keiner von euch hat seine Bestie zerstört. Ihr habt sie lediglich unterdrückt.«
Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen. Alissa bekam es mit der Angst zu tun, als sich schieres Entsetzen über die Gesichter breitete, die sie anstarrten. Dann brüllte die Menge empört auf. Keribdis wirkte selbstzufrieden. »Ich will es tot sehen«, rief sie über den Lärm hinweg. »Ich will es tot sehen, sofort. Es gibt nicht beides. Es gibt nur das eine oder das andere. Ich habe keine Bestie in meinen Gedanken!«
»O doch!«, rief Alissa.
»Töte es!«
Verängstigt stand Alissa auf. Ihr Herz raste. »Ihr könnt mich nicht dazu zwingen.«
Keribdis’ Gesicht nahm einen hässlichen Ausdruck an. »Dann werde ich dir die Bewusstheit entreißen und dich wieder zu dem machen, was du ihn Wahrheit bist: ein wildes Tier.«
Der Lärm erstarb. Alissa schnappte panisch nach Luft. Dann erkannte sie, was Keribdis da vorgeschlagen hatte. Erleichterung überwältigte sie so plötzlich, dass sie sich am Tisch abstützen musste. Es war vorüber. Beinahe hätte sie gelacht, hielt sich aber zurück, damit die anderen nicht glaubten, sie sei übergeschnappt. Keribdis hatte die schlimmste Drohung auf den Tisch gelegt, die ihr einfiel, doch das war eine Drohung, die Alissa nichts anhaben konnte.
Ein Lächeln, unwillkürlich und aufrichtig, breitete sich über ihr Gesicht. Keribdis blinzelte, und Alissa ließ das Lächeln wachsen. Sie schlug die Augen nieder, denn sie schämte sich beinahe für die Frau, die nichts verstand. »Ihr könnt mir die Bewusstheit nicht rauben«, erklärte Alissa leise, den Blick auf ihren steinernen Becher gerichtet. »Ihr könnt sie vielleicht unterdrücken, doch Bestie wird nicht die Kontrolle übernehmen,
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