Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Hand.
Und dann wurde Talo-Toecan eiskalt. Keribdis.
Er begann zu keuchen, als ihm der Gedanke kam, dass seine Frau Alissas Schmerz verursacht haben könnte. Doch als er seine Gefühle ehrlich betrachtete, musste er sich eingestehen, dass es vermutlich so war. Machtvoll rauschten Ärger und Sorge durch seine Adern, und er zwang seine Schwingen, schneller zu schlagen. Nur allzu bald zwang ihn die Erschöpfung allerdings in einen Gleitflug. Er verfluchte sich dafür, dass er alt geworden war, und sank ganz allmählich herab, während er seinen Schwingen eine Rast gönnte. Die Sonne schien ihrem Untergang entgegenzueilen, und er verlor immer mehr an Höhe.
Das Wasser kam näher, und sein Zorn wurde vom Selbsterhaltungstrieb abgelöst. Er war Alissas Ruf gefolgt, doch je näher er kam, desto schwerer wurde es, den genauen Ursprungsort festzustellen. Und er hatte keine Ahnung, wie weit er noch fliegen musste.
Er beruhigte seinen Verstand und lauschte. Die ganze letzte Nacht lang hatte er gelauscht. Gelauscht, bis ihm der eigene Herzschlag in den Ohren dröhnte wie der Puls der Zeit. Nun, als die Sonne unterging, schloss er die Augen und lauschte erneut. Mit jeder Faser seines Wesens suchte er nach ihrer Präsenz und versuchte zu glauben, er könnte sich über die Erdkrümmung hinweg bemerkbar machen. Alissa konnte es. Warum vermochte er es nicht?
»Alissa …«, rief er und zwang sein Herz zur Ruhe, weil er nur zwischen den Herzschlägen gut hörte. Eine schwache Antwort drang zu ihm, und er riss die Augen auf. »Alissa!«, rief er und suchte den Himmel ab. Sein Atem beschleunigte sich, als er einen Schatten entdeckte, der verkrampft auf den Wellen lag. Goldene Schwingen fingen den letzten Schimmer der untergehenden Sonne ein. Angst, fremdartig und schockierend, durchfuhr ihn.
Ihre Schwingen waren weit ausgebreitet, der Hals zurückgebogen, damit der Kopf auf den Schultern über dem Wasser ruhte. Ihr Schwanz hing unter ihr hinab und verlor sich im Wasser. Selbst im ersterbenden Licht konnte er erkennen, dass ihre goldene Haut von der Sonne rot verbrannt war. Eine weiße Salzkruste umgab sie. Große, dunkle Schemen kreisten unter ihr in der Tiefe.
»Alissa!«, rief er und stieß zu ihr hinab. »Versuchst du etwa zurückzufliegen? Du dumme, mutige Närrin!«
»Meine Schuld«, drang ein kränklich geflüsterter Gedanke zu ihm.
Talo-Toecan zögerte. Das war nicht die Signatur von Alissas Gedanken. Aber es gab keine anderen jungen Rakus. Das musste … »Silla«, dachte er, jubelnd und bestürzt zugleich. Warum lag sie sterbend hier draußen auf den Wellen? Dann entschlüpfte ihm ein tiefes Grollen. Vielleicht sollte die Frage eher lauten: Was hatte Keribdis getan, dass sie ihre Schülerin derart verängstigt hatte?
Er zügelte seinen aufwallenden Ärger und ließ sich herabsinken, bis er den Wind über die Wellen peitschen hörte. Ein angewiderter Laut entfuhr ihm, als er das Wasser zwischen seinen Hinterbeinen fühlte und landete. Er hielt die Schwingen aus dem Wasser, bis er sicher war, dass er hoch genug trieb, um sie trocken zu halten, und legte sie dann vorsichtig an. Die dunklen Schemen flohen, und Erleichterung überkam ihn.
»Silla?«, dachte er vorsichtig und streckte einen Arm aus, um ihr mit der Rückseite einer Klaue über den Kopf zu streichen. Die dunklen Schatten im Wasser kehrten zurück, und er spannte sich an. »Silla, wach auf«, sagte er und versuchte, sich seine Sorge nicht anmerken zu lassen. »Du musst dich verwandeln, damit ich dich tragen kann.«
Ihre Lider flatterten. »Alles meine Schuld«, dachte sie schwächlich, und seine ledrige Stirn runzelte sich. Ihre Gedanken waren wie eine stetige Brise, die nach Holzrauch duftete.
Er fasste Mut und riskierte es, leicht an ihrem Kopf zu rütteln. »Silla, ich bin Talo-Toecan. Sieh mich an. Ich muss dich zur Insel zurückbringen. Du musst mir sagen, wo sie ist.« Er beugte sich vor, und als sein Schatten über sie fiel, öffnete sie die Augen.
»Nein!«, rief sie. »Ich muss Talo-Toecan finden. Ich muss ihn finden!« Ihre goldenen Augen starrten ins Leere. Sie war völlig ausgetrocknet und nicht bei klarem Verstand.
Talo-Toecan schäumte vor Frustration. Was hatte Keribdis getan? Er wünschte sich verzweifelt Antworten, blickte in den makellos blauen Himmel auf und erinnerte sich wieder, warum er Wasser hasste. Es war schlimmer als eine Wüste und ebenso tödlich. »Silla, hör mir zu«, dachte er entschlossen. »Alissa ist wirklich.«
»Ich
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