Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
leitete, könnte er mehr nützen als schaden.
»Dorthin«, sagte sie und deutete vage übers Meer. Sie ließ den Kopf an seine Brust sinken, nahm seinen Schutz dankbar an, und sein Herz flog ihr zu. »Dorthin.«
Talo-Toecans Zorn war zu einem beständigen Köcheln angewachsen. Er benutzte ihn, um sich mühsam wieder in die Luft zu erheben. Keribdis, dachte er und spürte schmerzhaft jeden Muskel, als er mit den Schwingen schlug und über die Wasseroberfläche rannte wie ein schwerfälliger Albatros. Er hätte die Frau nicht aus den Augen lassen dürfen. In seinen wildesten Träumen wäre er nicht darauf gekommen, dass sie fern der Feste so viel Schaden anrichten könnte.
Mit einem letzten Aufbäumen schaffte er es, sich in die Luft zu erheben. Drei mächtige Flügelschläge, und sie gewannen an Höhe. Er blickte auf Silla hinab und war besorgt und erleichtert zugleich, als er feststellte, dass sie ohnmächtig geworden war.
Um bei der Wahrheit zu bleiben: Er hatte Keribdis dazu aufgestachelt, von der Feste fortzugehen, und sie glauben lassen, es sei ihre Idee. Er hatte den Punkt erreicht, an dem er es nicht mehr ertragen konnte, und es war einfacher gewesen, sich auf diese Weise zu trennen, als ihre Unstimmigkeiten auszuräumen. Und er hatte nichts gesagt, als das gesamte Konklave mit ihr fortgezogen war; er war sogar froh darüber gewesen.
Talo-Toecan empfand bittere Genugtuung. Mit dem vermeintlich vorübergehenden Auszug der anderen war die Entscheidung, was man wegen der entwichenen rezessiven Allele unternehmen sollte, um weitere zwei Jahrzehnte aufgeschoben worden. Während dieser Zeit hatten die Völker sich derart gründlich vermischt, dass die anderen durch ihr Nichtstun unwissentlich den Anfang seines eigenen Plans in Gang gebracht hatten.
Während Talo-Toecan darum rang, an Höhe zu gewinnen, wurden seine Augen schmal. Ein kleiner Teil der Meister teilte seine Überzeugungen, doch sie hatten ihre Zustimmung nur durch ihr Schweigen zum Ausdruck gebracht, während die anderen lautstark protestierten. Hatten sie gewusst, wie dicht der Zusammenbruch der Barrieren zwischen den Populationen tatsächlich bevorstand? Waren sie freiwillig ausgezogen, damit sein Plan eine Chance hatte? Warum waren sie nicht geblieben?
All das konnte er nicht beantworten. Vielleicht waren sie mit Keribdis gegangen, um zu verhindern, dass sie etwas sehr Dummes tat. Wenn ja, dann hatten sie versagt. Denn falls Keribdis Alissa wehgetan hatte, dann hatte die Frau die Regeln so sehr verändert, dass sie inzwischen ein anderes Spiel spielte. Eines, das er sie nicht gewinnen lassen durfte.
– 36 –
S trell beendete eine Melodie und ging in einem Atemzug zur nächsten über. Der Sand unter ihm war kalt, und die aufgehende Sonne fühlte sich gut an, wo sie durch seine dünne Hose auf seine Schienbeine fiel. Er saß am Fuß einer Palme unmittelbar vor dem kleinen Zelt. Lodesh saß neben ihm. Der Bewahrer gähnte und fuhr sich mit der Hand über die stoppeligen Wangen. Strell verkniff sich eine Grimasse, als er bemerkte, dass der dreihundert Jahre alte Mann kein graues Haar in seinem sprießenden Bart hatte und vermutlich auch nie haben würde.
Das spielt keine Rolle, dachte Strell mit plötzlicher Befriedigung. Alissa war sein. Vor Pein schloss er die Augen. Sie würde es schaffen. Sie musste es schaffen.
Lodesh räkelte sich und seufzte vor Müdigkeit; sie hatten kein Auge zugetan. »Sie kann dich nicht spielen hören«, sagte er leise, während sie zusahen, wie Alissa atmete.
Ohne einen Ton auszulassen, streckte Strell den rechten Fuß aus und schrieb mit der Stiefelspitze krakelig in den Sand: »Doch.«
»Oh, großartig.« Lodesh warf ihm einen ironischen Blick zu. »Ich kann meinen Namen auch in den Schnee schreiben.«
Strell kämpfte darum, nicht zu lachen und seine Musik zu verderben, und fügte in Raku-Schrift hinzu: »Ich auch.«
»Sogar in zwei Sprachen?«, bemerkte der Bewahrer. »Also schön. Jetzt bin ich beeindruckt.«
Strell ließ die Flöte sinken. »Alissa hat mir die Schrift der Feste in unserem ersten gemeinsamen Winter beigebracht«, sagte er in die plötzliche Stille hinein. »Für den Fall, dass Bailic je verlangen sollte, dass ich etwas lese.«
Lodesh nickte. »Und, hat er das?«
Strell zuckte mit den Schultern. »Ein paar Mal.«
»Hmm«, brummte Lodesh nachdenklich. »Du weißt nicht zufällig, wie sie ihren Namen schreibt, oder?«
Strell strich ein Stückchen Sand glatt und kratzte in der
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