Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
weiß«, nuschelte Silla matt. »Sie und Bestie sind wirklich; ich bin es nicht.«
Verwirrt spritzte Talo-Toecan ihr Wasser ins Gesicht. Das erzielte die gewünschte Wirkung.
»Wer?«, rief der junge Raku aus und war auf einmal hellwach. Sie hob den Kopf, versuchte sich in die Luft zu erheben und schrie vor Schmerz auf, als ihr von Sonne und Salz ausgedorrter Flügel riss.
»Ich bin Talo-Toecan!«, sagte er erschrocken. »Alissa hat nach mir gerufen. Ich bin hier!« Noch immer schlug sie um sich und peitschte das Wasser unter ihren blutenden Schwingen zu roter Gischt auf. »Hör auf!«, donnerte er, denn er fürchtete, sie könnte vor seinen Augen ertrinken. »Ich will dir helfen!«
Sein Gedanke drang durch ihre Panik, und sie hielt inne, halb untergetaucht und keuchend. »Ihr seid Talo-Toecan?«, flüsterte sie, und Hoffnung mischte sich in ihre Angst. Ihre Augen waren glasig vor Schmerz, als sie versuchte, ihre Schwingen anzulegen. Sie gab es auf.
Blut färbte die Wellen, und Talo-Toecans Sorge wuchs, als er auf die dunklen Schemen unter ihnen blickte. Er musste sie aus dem Wasser schaffen. »Ja«, sagte er. »Wo ist Alissa?«
»Bitte«, flüsterte sie. »Kennt Ihr einen Heilungsbann, Meister Talo-Toecan?«
Er schloss kurz die Augen, als er sich vorstellte, welche Qualen sie litt. »Ja, Kind. Aber ich glaube nicht, dass ich dir jetzt einen geben kann. Wie lange liegst du schon ohne Nahrung und Wasser im Meer?«
»Zwei Tage im Wasser. Drei Tage ohne Essen«, flüsterte sie und senkte den Blick. »Ich dachte, ich könnte es schaffen«, setzte sie hinzu und begann zu weinen. »Ich wusste doch nicht, dass es so weit ist.«
Talo-Toecan schüttelte den Kopf. »Du hast die Reserven deines Körpers beinahe aufgebraucht. Der Bann wird deine Schmerzen vermutlich nur verschlimmern.«
»Also schön«, sagte sie tapfer, obwohl sie kaum den Blick gerade halten konnte. »Dann versuche ich, ohne den Bann zufliegen.«
»Fliegen!« Talo-Toecan ließ den Blick über ihre mit Salz verkrusteten, ausgedorrten, rissigen Schwingen gleiten. Sie war beinahe tot vor Erschöpfung und wollte fliegen. »Silla, ich werde dich tragen. Ich kann deinen Schmerz zumindest ein wenig betäuben, damit du dich verwandeln kannst.«
Sie spannte sich vor Schreck und öffnete die Augen. »Ich werde ertrinken, wenn ich mich verwandle!«
»Ich lasse dich nicht ertrinken«, sagte er und stieß mit der Hinterklaue nach einem der Schatten, um sie zu verscheuchen. Auf ihr Nicken hin versuchte er den Bann. Er wusste, dass er gewirkt hatte, als sie erstaunt die Augen aufriss, weil ihre Schmerzen plötzlich nachließen. Ein Hauch von Argwohn und Furcht schlich sich in ihren Blick, als sich der Vorhang aus Pein vor ihrem Verstand hob und sie ihn zum ersten Male richtig sah. Er versuchte, ihr ein zuversichtliches, tröstliches Lächeln zu schenken, doch sie sah so schlimm aus, dass das wohl ein nutzloses Unterfangen war.
Sie atmete flach ein, verschwand in einem perlweißen Wirbel und erschien viel schneller wieder vor ihm, als Alissa das je getan hatte. Er packte hastig zu, als ihr Kopf in den Wellen zu versinken drohte, und zog die tropfende Gestalt so sanft wie möglich aus dem Wasser. Ihr unwillkürlicher Schmerzensschrei erschütterte ihn, als das Salzwasser in ihren offenen Wunden brannte und der Schmerz den Bann durchstieß.
»Geht es dir gut?«, fragte er und verfluchte seine Klauen und seine dicke Haut.
»Ja«, sagte sie laut und krümmte sich dann. Ihre Stimme brach, und sie bekam einen Hustenanfall.
Er wartete, bis sie wieder aufhörte. Er hielt Silla vorsichtig an sich gedrückt und schüttelte sich das Wasser von den Spitzen seiner Schwingen. Ihr Haar war so schwarz wie Keribdis’, und er fragte sich, wessen Kind sie sein mochte. »Halte durch, Silla«, sagte er und blickte in den Himmel, der sich zusehends verdunkelte. »Der schlimmste Teil kommt noch, wenn ich mich in die Luft schwinge.« Er zögerte und fragte sich, wie er das zusätzliche Gewicht bewältigen sollte. »In welche Richtung soll ich fliegen?«
Silla schloss die Augen. Ihre Lippen waren aufgesprungen. Zwei Tage in der Sonne hatten sie grausam rot verfärbt, und ihre Haut war so empfindlich, dass ihr die mit Salzwasser getränkte Kleidung trotz des Banns offenkundig Qualen bereitete. Vielleicht … überlegte er, als er die Hitze spürte, die von ihrer verbrannten Haut ausging. Vielleicht sollte er doch einen Heilungsbann riskieren. Wenn er nur wenig Energie in seine Pfade
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