Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Kapitän kniff gegen das Licht hinter Connen-Neute die Augen zusammen. »Warum? Was kümmert es Euch, warum?« Abrupt schob er Alissa ihre Glöckchen hin und stand auf. »Seid morgen vor dem zweiten Gezeitenwechsel an Bord. Also nach Sonnenuntergang.« Erneut kniff er die Augen zusammen. »Und behaltet die Sache für Euch. Ich brauche Zeit, um meine Mannschaft zusammenzusuchen – sofern überhaupt noch einer von denen da ist«, fügte er säuerlich hinzu.
»Wartet!«, rief Alissa, als er hinausging, doch er war schon weg. »Wir haben ein Schiff?«, fragte sie.
Lodesh grinste und ließ sich auf dem nun leeren Stuhl nieder. »Du hast uns ein Schiff beschafft, Alissa«, erwiderte er. »Ich habe Strell doch gesagt, dass wir nichts weiter tun müssten, als dich danach fragen zu lassen.«
Strells Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wenn ich mich recht erinnere, war das mein Vorschlag.«
Sie wurden vom Wirt unterbrochen, der Strell eine Schüssel Kartoffelsuppe brachte. Strell hatte in den vergangenen Tagen anscheinend kaum etwas anderes gegessen. »Aber warum?«, fragte Alissa, als Strell sich einen Stuhl heranzog und sich begeistert über sein Mahl hermachte. »Er wollte nicht einmal Geld dafür.«
Der Wirt schnaubte leise. »Aus Rache«, sagte er und nahm Alissas leeren Keksteller an sich. »Kapitän Sholan hat seine Ehefrau auf der letzten Fahrt die Küste rauf mit einem seiner Seeleute erwischt. Hätte den Mann beinahe kielholen lassen und hat ihr mit der Scheidung gedroht. Hat dann aber doch einen Rückzieher gemacht, denn wenn er sich scheiden lässt, verliert er sein Schiff.«
Alissa stieß in plötzlichem Verständnis den Atem aus, und Strell zögerte über seiner Suppenschüssel.
Der Wirt presste missbilligend die Lippen zusammen. »Er hat ein Ein-Glöckchen-Weib unter dem Dock hervorgeholt und sie zu einer Zwei-Glöckchen-Frau gemacht.« Er zuckte mit den Schultern. »Manchmal geht es gut, wenn man sie vom Bilgenschrubben wegholt, manchmal auch nicht. Kapitän Sholan nimmt Euch an Bord, weil dabei nichts zu holen ist. Er will sie ruinieren, bevor er sich scheiden lässt. Das Schiff mag ihr gehören, aber er bestimmt, wohin die Fahrt geht.« Er wandte sich ab und fügte hinzu: »Da habt Ihr Glück gehabt.«
»Glück«, hauchte Strell. »Ich glaube nicht an Glück.« »Und Alissa glaubt nicht an Magie«, sagte Connen-Neute und setzte sich neben ihn. »Selbst dann nicht, wenn ihr die Magie ins Gesicht schlägt.« Er grinste unter seinen Bandagen. »Darf ich es Talo-Toecan erzählen, Alissa? Er hat mit mir um das Feuerholz einer ganzen Woche gewettet, dass es Euch nicht gelingen würde, in weniger als einem Monat ein Schiff aufzutreiben.«
Strell lachte und beugte sich wieder über seine Suppe. »Er hätte es besser wissen müssen, als darauf zu setzen, dass Alissa irgendetwas nicht kann. Damit sorgt man ganz sicher dafür, dass sie es schafft.«
– 9 –
D ie Brise ließ ihr Haar feucht werden, und die Glöckchen begleiteten jeden ihrer Schritte, während Lodesh sie das breite Dock entlangführte. Die Sonne war schon untergegangen, das Meer eine schwarze Weite voll verborgener Bewegung mit üppigem Duft. Hier und da blinkten Feuer in metallenen Schalen auf dem Dock oder schwankten auf den kleinen, einmastigen Booten auf und ab, die miteinander vertäut waren. An manchen Stellen reihten sich fünf Boote aneinander, so dass die Leute von ganz hinten über die Schiffe ihrer Nachbarn klettern mussten, um den breiten Steg zu erreichen. Alissa fand, dass das recht gefährlich aussah. Wenn eines dieser Schiffe Feuer fing, würden alle in Brand geraten. Draußen im tieferen Wasser lagen die Handelsschiffe, unter ihnen auch die Albatros. Öllampen markierten die Enden der ansonsten dunklen Schiffe.
»Pass auf, wo du hintrittst, Alissa«, warnte Lodesh und nahm ihren Ellbogen, als sie über ein Brett stolperte. Sie warf ihm ein hastiges Lächeln zu, sah sich dann weiter staunend um und verließ sich darauf, dass er sie nicht stürzen lassen würde. Connen-Neute und Strell gingen mit dem Burschen aus dem Wirtshaus und dem Karren mit ihren Habseligkeiten vorneweg. Kralle kniff sie in die Schulter und schmollte, weil sie den ganzen Tag lang eingesperrt gewesen war.
Der Duft von bratendem Speck und Fisch hing schwer in der Luft. Um die Feuer auf dem Dock hockten verdrießliche Grüppchen von Leuten, die sich unterhielten oder kleine Arbeiten verrichteten. Ihr Singsang-Akzent trieb auf und ab wie
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