Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
heimliche Methoden, um solche Dinge in die Bahnen zu leiten, die er für richtig hielt.
Er stieß einen leisen Schrei aus, als seine Finger auf poliertes Holz stießen. Dann sah er näher hin und runzelte die Stirn. »Die ist aus Euthymienholz, aber es ist nicht die richtige Flöte.«
»Nein.« Lodesh trank einen tiefen Zug aus seinem Becher, verzog das Gesicht und stellte ihn auf Armeslänge von sich weg. »Er hat sie zerbrochen. Das war ein Glück, denn er hat sich immer schlimmer verbrannt, indem er für Alissa darauf gespielt hat. Diese hier hat er aus dem abgeschnittenen Ende von Alissas Wanderstab geschnitzt.« Lodesh stellte seinen Teller auf Connen-Neutes leere Schüssel. »Seht Ihr die Position des letzten Loches?«
Connen-Neute hielt die Flöte hoch, als wollte er darauf spielen. »Er hat das Loch so gesetzt, dass er es mit seinem verkürzten Finger erreichen kann.« Er blickte mit gerunzelten Brauen auf. »Unser Wandermusikant besitzt eine Flöte aus Euthymienholz, auf der niemand außer ihm spielen kann. Interessant …«
Lodesh lachte. »Erspart mir bitte jedwede Raku-Prophezeiungen.«
Ein plötzlicher Gedanke lenkte Connen-Neute von der kostbaren Flöte ab. »Er könnte in der Lage sein, Bewahrer-Kinder zu zeugen.«
»Ihr habt seine Pfade gesehen«, entgegnete Lodesh hastig. »Talo-Toecan sagt, dass es unter dem Narbengewebe keine zusammenhängenden Pfade gibt. Strells Geschwister hätten vielleicht Bewahrer werden können, Strell aber nicht.«
»Möglich«, sagte Connen-Neute und gähnte. »Asche, bin ich müde. Ich gehe hinauf an Deck, um einen klaren Kopf zu bekommen. Ich will heute Nacht versuchen, Talo-Toecan zu erreichen.«
Lodesh gähnte ebenfalls. »Alissa hat gesagt, dass sie vor drei Nächten den Kontakt zu ihm verloren hätte.«
»Einen Versuch ist es wert«, beharrte Connen-Neute. »Vielleicht hat er eine Ahnung, wie es möglich ist, dass Strell Felder spüren kann. In jedem Fall würde er davon erfahren wollen.«
Lodesh erhob sich zusammen mit Connen-Neute und fing sich an einem Deckenbalken ab. Er schwankte, ungewöhnlich unsicher auf den Beinen. »Wir sehen uns also morgen. Wir müssen Alissa zur Vernunft bringen.«
»Sie versucht seit Tagen, mich dazu zu überreden, dass ich mit ihr das Schiff verlasse und vorausfliege«, sagte Connen-Neute und beobachtete Lodesh noch einen Moment lang, ehe er seine Bandage wieder anlegte.
Lodesh wirbelte herum, alle Müdigkeit war von ihm abgefallen. »Das werdet Ihr doch nicht tun, oder?«
Grinsend und stumm erschuf Connen-Neute zwei rote Schärpen als Ersatz für Alissas schwarze, die er mit Sauce bekleckert hatte. Immer noch schweigend, umwickelte er sich die Hände und stieg die Leiter hinauf ins Dunkel. Es würde dem kecken Bewahrer guttun, zur Abwechslung einmal nicht alles zu wissen.
– 12 –
A lissa«, zischte eine Stimme, die in ihrem Kopf summte wie ein Bienenschwarm. »Alissa, bitte. Wach auf!«
Sie versuchte zu schlucken und stellte überrascht fest, wie schwierig das war. Sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund, den sie nur zu gut kannte. Betäubt?, dachte sie verwirrt. Hatte Redal-Stan ihr wieder etwas eingeflößt? War er hier? Darüber würde sie ein Wörtchen mit ihm reden!
Benommen versuchte sie, die Augen zu öffnen, doch es ging nicht. Jemand zerrte an ihrem Haar. Federn, dachte sie, denn danach roch es. Blut? Nein, Aas. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander und stellten dann die Verbindung her. Kralle.
Ihr Kopf wurde ein wenig klarer. Mit einem kurzen Lufthauch war Kralle verschwunden. Alissa hatte Kopfschmerzen, und ihre Arme taten weh. Sie fürchtete, sich gleich übergeben zu müssen. Das Schiff erhob sich auf einer Welle, und die Takelage klopfte dumpf gegen schlaffes Segeltuch.
Etwas stieß an ihre Hand, dann betastete jemand ihre Handgelenke, die vor ihr gefesselt waren. »Asche«, flüsterte Strell mit Panik in der Stimme. »Warum habe ich diesem Unsinn zugestimmt? Ich wusste doch, dass sie sich in Schwierigkeiten bringen würde. Das Mädchen kann keine Blumen pflücken gehen, ohne mit Geistern nach Hause zu kommen.«
Alissa spürte ein Lachen in sich aufsteigen, das als leises Stöhnen über ihre Lippen drang. Strell sprach mit sich selbst? Warum auch nicht?, dachte sie dann wirr. Sie sprach nicht nur mit sich selbst, sie bekam sogar freche Antworten.
»Bestie?«, nuschelte sie in ihren Geist und erhielt ein schläfriges Murmeln zur Antwort. Ihr zweites Bewusstsein war ebenso wach wie sie
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