Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
wieder von ihr loszureißen. Er fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen und blickte zu den drei Dockmännern hinüber, die den Kapitän verhöhnten. »Stell dich schlafend«, raunte er und rutschte über den Boden, bis seine gefesselten Hände in ihr Gesichtsfeld ragten. Der Geruch von nassem Seil und Sand drang ihr in die Nase. Und Blut. Sie konnte Blut riechen. Trotz der heißen Sonne überlief sie ein kalter Schauer.
Sogleich begann sie, an den Seilen um seine Handgelenke zu zupfen. Ihre Finger waren kalt und steif. Sie unterdrückte einen frustrierten Aufschrei und half mit den Zähnen nach. »Was ist geschehen?«, fragte sie, ihre Worte von dem dicken Seil gedämpft. Es schmeckte nach Schweiß.
»Kapitän Sholan hatte recht«, sagte er und beugte sich ein wenig über sie, so dass er ihre Augen beschattete. »Die Dockmänner haben das Schiff übernommen.«
Das Schiff war ihr völlig gleichgültig. »Wo sind Lodesh und Connen-Neute?«
»Ich weiß es nicht. Sie haben das Essen von gestern Abend vergiftet. Sie haben nicht damit gerechnet, dass ich so rasch aufwachen würde. Ich habe zugesehen, wie sie den ersten Maat und einen Mann von Kapitän Sholans fester Mannschaft getötet haben. Vermutlich haben sie auch den vermissten Seemann umgebracht. Es tut mir leid, dass sie dir wehgetan haben, Alissa. Geht es dir gut?«
Sie nickte. Die Knoten waren glitschig von Strells Schweiß. Seine Finger sahen sehr weiß aus, während die amputierte Spitze seines kleinen Fingers dunkelrot leuchtete. Strell war seekrank gewesen und hatte kaum etwas gegessen. Sie selbst war ungewöhnlich früh müde geworden. Sie waren sehr dumm gewesen.
Während sie an den Knoten arbeitete, sandte sie ihre Gedanken über das Schiff aus. Panik erfasste sie, als sie Connen-Neute und Lodesh nicht finden konnte. Sie sind tot, dachte sie. Sie müssen tot sein! Mit einem scheußlichen Gefühl in der Magengrube weitete sie ihre Suche aus. Erleichtert sanken ihre Schultern herab, als sie die beiden fand – sie schaukelten in einem Beiboot, das am Schiff vertäut war. Sie schliefen, viel zu tief für einen natürlichen Schlaf. »Ich habe Connen-Neute und Lodesh gefunden«, flüsterte sie. »Sie sind in einem der Beiboote.«
»Leben sie noch?«, fragte er ängstlich.
»Sie schlafen«, raunte sie; von seiner Frage wurde ihr erneut übel.
»Du bist ein Hund!«, brüllte der Kapitän plötzlich. »Ich werde dafür sorgen, dass du an deinen eigenen Gedärmen aufgehängt wirst. Bindet mich los!«, tobte er. »Kämpft mit mir. Dann werden wir sehen, wie mutig ihr seid. Gift und Heimtücke. Hafenhuren haben mehr Ehre als –«
Seine Worte endeten mit einem dumpfen Schlaggeräusch und einem schmerzerfüllten Stöhnen. Alissa arbeitete mit Feuereifer. »Fast geschafft«, flüsterte sie, als sie spürte, dass sich die Knoten lockerten. Strell zog und zerrte, und die Fesseln lösten sich.
Er spannte sich an und rückte beiseite, um sich auf das Seil zu setzen. »Kannst du sie mit einem Bann belegen?«, fragte er und hielt ihr den Rücken zugewandt, während er die Arme nach hinten streckte und nach ihren gefesselten Handgelenken griff. »Sie in Schlaf versetzen? Oder erstarren lassen?«
»Nur einzeln, nacheinander. Leute mit einem Bann zu belegen, ist schwer. Lass mich erst Connen-Neute und Lodesh von dem Gift befreien. Solange die Männer uns ignorieren, haben wir ein wenig Zeit.«
»Das kannst du? Von hier aus?«, fragte er. Seine Hände schlossen sich um ihre, die immer noch gefesselt waren. »Wie konnte ich nur so dumm sein, Alissa?«, flüsterte er. »Ich habe dich in schreckliche Gefahr gebracht. Sie wollen dich verkaufen!«
Tränen brannten ihr in den Augen, nicht seiner Worte wegen, sondern wegen der Liebe, die sie darin hörte. Sie küsste seine Fingerspitzen und drängte ihn dann, ihre Fesseln zu lösen. »Wir schaffen das schon. Lass mich erst die anderen wecken.«
Während Strell an ihren Fesseln arbeitete, sandte Alissa ihre Gedanken zu dem Ruderboot aus. Zitternd füllte sie ihre Pfade mit Energie. Das Boot war weniger als eine Raku-Länge entfernt, also würden ihre Banne bis dorthin reichen. Blut strömte in ihre Hände, als Strell sie freibekam. Alissa achtete nicht auf den kribbelnden Schmerz in ihren Fingern, sondern legte einen Heilungsbann über Lodesh. Einen Herzschlag später tat sie das Gleiche bei Connen-Neute. Der junge Meister fiel in einen natürlichen Schlafzustand, wie er es nach einem Heilungsbann stets
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