Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
sie die Hand über Neugwins legte. Sie wurde schüchtern, als Neugwin ihre Meisterweste bemerkte und die Augenbrauen hochzog. Ihr Herz pochte laut, doch die vielen Meister wirkten recht freundlich – wenn auch etwas anstrengend. »Ich weiß nicht genau, wie ich es geschafft habe, Lodesh zu wecken«, sagte Alissa. »Dies ist Strell Hirdun, und Kapitän Sholan steht dort unter dem Baum.«
»Hirdun?«, wiederholte Neugwin, und ihre Brauen hoben sich erneut. »Keribdis, ich hätte deine Wette doch annehmen sollen. Ich habe dir gesagt, dass wir aus der Hirdun-Linie einen Bewahrer bekommen würden. Du hast zu wenig Vertrauen, meine Liebe.«
Keribdis berührte ihre Haarbänder. Alissa glaubte, dass diese Bewegung Keribdis eher dazu dienen sollte, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als ihr Haar zu richten. »Dann müsstest du mir jetzt die nächsten zehn Jahre Frühstück machen«, erwiderte Keribdis, deren Miene beinahe überheblich wirkte. »Er ist kein Bewahrer.«
»Nicht?« Neugwin musterte Strell scharf.
»Er ist ein Gemeiner«, erklärte Keribdis säuerlich. »Aber es kommt noch besser. Talo-Toecan hat ihm Gemächer im Turm zuerkannt. Einem Gemeinen. Die Wölfe mögen wissen, warum.«
Alissas Beklemmung wuchs, als ein nervöses Raunen durch die Menge lief. Lodesh riss erstaunt die Augen auf. Sie sah zu, wie er plötzlich überlebensgroß zu werden schien – er nahm es mit Keribdis’ dramatischer Darstellung auf, als täte er das jeden Tag. Er spielte überzeugend den Verwirrten, und Alissa wusste, dass er sich damit vor den Vorwürfen schützen wollte, die Keribdis dem Überbringer schlechter Nachrichten gewiss machen würde. »Silla hat Euch nicht erzählt, was geschehen ist?«, fragte er mit weit ausgebreiteten Händen. »Warum wir gekommen sind? Weshalb wilde Rakus ihre Bewusstheit wiedererlangen, Geister ins Leben zurückkehren und Gemeinen ein Titel der Feste verliehen wird?« Silla wirkte nervös, und Keribdis schaute recht giftig drein. »Silla und Alissa stehen seit einem halben Jahr in Traumberührung«, endete er. »Habt Ihr ihr denn nicht zugehört?«
»Eigentlich«, sagte Alissa leise, »war es schon viel länger.«
Wie ein Mann wandten sich die versammelten Meister Keribdis zu. Ihre finsteren Mienen wirkten mal vorwurfsvoll, mal verängstigt. »Nein«, sagte Neugwin mit einer Stimme, die schwer einzuschätzen war. »Wir wussten, dass Silla nicht gut geschlafen hat. Aber nur Meister können einander im Traum berühren. Wie …« Die Augen der mütterlichen Frau blitzten auf, sie ergriff Alissas Hände und starrte auf die normalen Finger hinab. »Du bist die nächste Transformantin der Feste«, flüsterte sie. Alissa durchfuhr ein Stich der Angst, doch Neugwins Augen strahlten vor Freude. »Aber wie, Liebes? So jemand wie du hätte nach unseren Plänen erst in fünfzig Jahren wieder erscheinen sollen.«
Keribdis räusperte sich heiser. »Offensichtlich hat jemand einen Fehler gemacht«, sagte sie und bemühte sich vergeblich, ihr Missfallen zu verbergen. »In den Büchern nachzusehen, wer die Wahrscheinlichkeitstabelle zur Vereinigung ihrer Eltern erstellt hat, wäre allein schon beinahe die Reise nach Hause wert.«
»Wir gehen also nach Hause?«, fragte Neugwin. »Jetzt haben wir ja ein Schiff.«
Keribdis blinzelte. »Aber wozu denn? Ich brauche die Feste nicht, um mit ihrer Ausbildung zu beginnen.«
»Aber ich bin hergekommen, um euch nach Hause zu holen …«, sagte Alissa verblüfft. Dass die anderen Meister vielleicht lieber hierbleiben würden, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Sie errötete verlegen. Auch Strell blickte verständnislos drein. Doch im Durcheinander erregter Stimmen hatte sie ohnehin niemand gehört.
Ein zorniger, berechnender Ausdruck huschte über Keribdis’ Gesicht. »Nichts hat sich geändert!«, erklärte die Frau bestimmt; dann bemerkte sie die verärgerten Mienen in der Menge und lächelte. »Aber selbstverständlich werden wir später in allen Einzelheiten darüber sprechen. Heute Abend feiern wir die Rückkehr eines verlorenen Kindes. Connen-Neutes Name ist nicht mehr eingekreist!«
Alle brachen in Jubel aus, und Alissa musste Bestie und Kralle gleichzeitig beruhigen. Keribdis’ Lächeln war gefühllos. Alissa wurde kalt. Keribdis manipulierte die anderen, wie sie es wohl schon ihr Leben lang getan hatte. Beunruhigt suchte Alissa die Gesichter ab, um festzustellen, wer in der Menge erkannte, dass Keribdis sie absichtlich abgelenkt hatte. Auch Lodesh
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