Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Abend. Das wird er uns heute Abend erzählen«, sagte sie, als der Wind noch stärker wurde. Ein paar Regentropfen trieben die Gruppe schneller voran.
Lodesh warf Alissa einen schelmischen Blick zu. »Ein Bewahrer hat das möglich gemacht. Ich glaube, Ihr kennt ihn. Bailic?«
»Bailic!«, rief Beso-Ran aus. »Wenn ich den kleinen Wurm jetzt vor mir hätte, würde ich ihm bei lebendigem Leib die Zehen rösten, weil er uns so schamlos ins vermeintliche Verderben geschickt hat.« Er schnaufte wegen des schnellen Tempos. »Aber hattet Ihr nicht gesagt, Alissa habe Euch erweckt?«
»Bailic hat mich nicht erweckt«, erklärte Lodesh. »Doch als er meine Stadt wach fand, zog er fälschlicherweise den Schluss, er hätte das bewirkt. Er wollte mein Volk ins Hochland und ins Tiefland ausschicken, um eine weitere Seuche des Wahnsinns zu verbreiten, als Strafe dafür, dass diese beiden Länder ihn verstoßen hatten. Meine Leute haben seine Seele in Fetzen gerissen, damit er die Seuche, die sie in diese Not gebracht hatte, nicht ein zweites Mal über die Welt bringen konnte. Diese Tat reichte aus, um mein ganzes Volk zu erlösen, oder nur mich.« Er zuckte mit den Schultern, offensichtlich unbekümmert. »Ich werde eine andere Möglichkeit finden, meine Seele zu befreien.« Er warf Alissa ein wissendes Lächeln zu. »Aber nicht in allernächster Zukunft, denke ich.«
Hinter ihr brummte Strell etwas Unverständliches. In Alissas Kopf summte die schwache Resonanz einer privaten geistigen Unterhaltung, und Keribdis seufzte. »Die Hütten müssen erst repariert werden«, sagte sie. »Ihr könnt unter dem Gemeinschaftsdach warten, bis der Regen aufgehört hat. Schnell. Wir wollen doch nicht nass werden.« Ohne auf sie zu warten, machte sie scharf kehrt und ging auf ein großes Gebäude zu. Es war das einzige Bauwerk, das Alissa am Boden sehen konnte, nach allen Seiten hin offen und mit riesigen Blättern gedeckt.
Alissa blickte hinter sich, als ein schwaches, zischendes Dröhnen aufkam. Mehrere warnende Rufe erklangen aus den Bäumen über ihr. Ihr blieb der Mund offen stehen, als sie erkannte, dass das Dröhnen von einer heranrückenden Regenwand kam. Strell zog sie am Arm, und alle warfen jegliche Würde in den Wind und rannten los.
Dicke Tropfen platschten auf ihre Schultern, als sich alle hastig unter dem Dach in Sicherheit brachten. Silla lachte, und Alissa wirbelte herum und sah zu, wie die Welt grau wurde und Donnerschläge auf sie herabrollten. Der Lärm war ohrenbetäubend, und sie konnte nur stumm hinausstarren. Der Wind trieb den Regen unter das Dach, und sie drängten sich in der Mitte zusammen. Sie fragte sich, wie es Hayden ergehen mochte. Der Regen war so heftig, dass Alissa das Gefühl hatte, sich unter Wasser zu befinden, und sie holte tief Luft, um sich selbst zu versichern, dass sie atmen konnte. Sie hoffte nur, dass Kralle Schutz gefunden hatte.
Der Regenguss endete beinahe so plötzlich, wie er begonnen hatte, und verebbte zu einem gemächlichen Tröpfeln. »Das war’s?«, fragte sie, erfrischt von dem kurzen Wettlauf und der kühleren Luft.
Neben ihr räusperte sich Beso-Ran grollend. »So ist das jeden Tag«, sagte er.
Erst jetzt sah Alissa sich die Schutzhütte näher an. Eine große Feuerstelle in der Mitte würde nachts für Licht sorgen und war nun mit aschebedeckten Kohlen gefüllt. Über ihrem Kopf waren Netze zwischen den Stützpfeilern gespannt, und sie fragte sich, ob hier Nahrungsmittel getrocknet wurden. Strell hatte sich auf einer der Bänke um die schwach glimmenden Kohlen niedergelassen, und Alissa setzte sich neben ihn. Sogleich nahm Lodesh auf ihrer anderen Seite Platz.
Sie lächelte, als sie sah, wie Connen-Neute sich nervös zwischen Silla und seiner Tante niederließ. Die beiden Frauen schwatzten fröhlich um ihn herum, und der junge Meister saß mit belustigter Miene da. Beso-Ran hatte eine Schüssel voll Beeren geholt, bot sie allen an und ließ sich erst zum Essen nieder, als die anderen abgelehnt hatten. Alissa verlor sich in der Erinnerung daran, wie Redal-Stan es immer genauso gemacht hatte, um sie dazu zu bringen, dass sie seine geliebten Schinkenröllchen kostete.
Alissa blickte über die Feuerstelle hinweg und blinzelte. Keribdis hatte sich ihr genau gegenüber gesetzt und zupfte nun ihre Gewänder sorgsam zurecht, als wollte sie damit auf Alissas viel schlichtere Kleidung hinweisen. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte die Frau mit präziser, leicht abgehackter Aussprache.
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