Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
»Ihr müsst mich entschuldigen. Ich möchte mich sofort an die Planung machen, wo ich mit dir anfangen werde.« Ihre schwarzen Augenbrauen wölbten sich spöttisch, als sie Alissa ansah. »Neugwin kann euch die Hütten zeigen, wenn sie fertig sind.«
»Connen-Neute kann bei mir bleiben«, platzte Neugwin heraus, und Connen-Neute errötete ob der Begeisterung seiner Tante. »Aber ich bringe euch zu den Hütten. Sie liegen am Ende dieses Pfades am Strand. Stadtvogt, Ihr und Strell könnt Euch die größere teilen, wenn Alissa nichts dagegen hat.«
»Ich bin kein Stadtvogt mehr, Neugwin«, sagte Lodesh, stibitzte eine Beere aus Beso-Rans Schüssel und warf sie sich scheinbar unbekümmert in den Mund. »Nur Lodesh. Bewahrer der Feste.«
Beso-Ran brummte unzufrieden. »Unsinn«, grummelte der dicke Meister. »Einmal Stadtvogt, immer Stadtvogt. Es ist mir gleich, ob Ihr in der Zwischenzeit tot wart.«
Lodeshs Blick huschte zu den fernen Bäumen hinüber. »Talo-Toecan hat mir den Titel aberkannt –«
»Dazu ist ein Quorum erforderlich!«, rief Keribdis aus. »Ihr seid noch immer Stadtvogt.«
»Ich habe die Strafe verdient.« Lodesh hob die Hand, um weiteren Widerspruch abzuwehren.
Neugwins Unterhaltung mit Connen-Neute geriet ins Stocken, und ein unbehagliches Schweigen machte sich breit. »Was könnte eine solche Strafe rechtfertigen?«, fragte die mütterliche Meisterin erstaunt.
Lodesh sah ihr ruhig in die Augen. »Ich habe geschwiegen, als ich ihn vor einer kommenden Gefahr hätte warnen müssen. Dass ich mit diesem Verrat mein eigenes Begehren erfüllen wollte, macht meine Schuld doppelt so schwer.«
Alissa merkte, wie Strell neben ihr die Luft einsog. Lodesh hatte sie im Namen der Liebe verraten. Er hatte Nutzlos’ Vertrauen und Alissas Freundschaft aufs Spiel gesetzt in der Hoffnung, dass sie sich in der Vergangenheit in ihn verlieben würde, wie er sich in sie verliebt hatte. So war es auch gekommen, aber alle hatten einen schrecklichen Preis dafür bezahlt. Sie hatte ihm den Verrat verziehen. Ihn zu vergessen, war schwieriger.
Es war offensichtlich, dass ganze Bände dieser Geschichte unausgesprochen blieben, doch die anderen Meister respektierten Lodeshs neue Schweigsamkeit. Keribdis jedoch schien zu ahnen, dass Alissa auch hinter diesem Affront steckte, und sie kniff die Augen zusammen. »Amüsiere dich heute Abend nur nicht zu gut«, warnte sie Alissa. »Ich will dich bei Sonnenaufgang am Strand sehen. Das ist die übliche Zeit für Sillas Unterricht, und ich nehme an, du kannst es kaum erwarten zu erfahren, was eine Meisterin in deinem Alter bereits wissen sollte. Wir fangen damit an, wie du deine Pfade und die Quelle findest. Silla könnte auch eine Auffrischung gebrauchen.«
Silla wand sich, und Alissa empfand aufrichtiges Mitgefühl. Es war nicht angenehm, wenn man gebeten wurde, sich dem langsameren Tempo eines anderen anzupassen. »Das kann ich schon«, sagte sie leise.
Keribdis stieß belustigt die Luft aus. »Ach, ja-a-a?«, erwiderte sie, und ihre Stimme war so schwer vor Sarkasmus, dass Alissa meinte, die Vokale auf dem Boden herumrollen zu sehen.
Beso-Ran blickte von seinen Beeren auf. »Talo-Toecan hat bereits mit deiner Unterweisung begonnen?« Sein Blick glitt zu Keribdis hinüber. »Das war deine Aufgabe.«
»Ja. Ich weiß«, erwiderte die Frau selbstgerecht. »Nun«, sagte sie zu Alissa, »wenn du glaubst, das gemeistert zu haben, können wir uns der nonverbalen Sprache zuwenden.« Keribdis erhob sich.
»Die beherrsche ich ebenfalls.« Alissa verabscheute sich dafür, dass sie errötete, und ihr Stolz trieb sie dazu hinzuzufügen: »Ich kann mit Bewahrern ebenso sprechen wie mit Meistern.«
Auf Keribdis’ hohen Wangenknochen erschien ein Hauch von Rot. Mit einem Knoten im Magen blickte Alissa in die verblüfften Miene der anderen Meister. Der letzte Meister – der Stille in Grau – war der einzige, der nicht überrascht wirkte. Mit verschränkten Armen lehnte er an einem der Stützpfeiler und beobachtete Keribdis, nicht Alissa. Seine Meisterweste war sehr schlicht, und der Schnitt erinnerte sie an Redal-Stans Kleidung. Seine Schärpe war gelb.
»Ich glaube, du verstehst gar nicht, was ich von dir verlange, armes Kind«, sagte Keribdis. »Sei morgen am Strand. Bei Sonnenaufgang.« Als sei die Angelegenheit damit beendet, gab sie Silla einen Wink, und die junge Frau folgte ihr, als sie in die letzten Regentropfen hinaustrat, die in der frisch enthüllten Sonne
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