Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Alissas Schultern entspannten sich, doch Keribdis machte alles mit einem verächtlichen Schnauben zunichte. »Seht euch nur an, was Talo-Toecan bei unserer Transformantin angerichtet hat«, sagte sie verbittert. »Sie mag eine Meisterin sein, doch ihr Geist ist verzerrt und missgebildet, weil sie so lange unter Menschen gelebt hat. Sie hätte isoliert werden müssen, bis ihr Verstand sich erholt und das richtige Schema wieder angenommen hatte, ehe man mit ihrer Unterweisung beginnt. Wer weiß, welche Auswirkungen das haben wird? Wozu sie vielleicht niemals in der Lage sein wird?« Die Frau schürzte die Lippen und sah umso strenger aus. »Talo-Toecan hat schwerstens versagt.«
Alissa stockte vor Empörung der Atem. Keribdis hielt ihre Fähigkeiten für Versagen? Strell trat einen Schritt vor, und sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Alissas Geist ist nicht missgebildet«, sagte er mit hart funkelnden Augen. Doch niemand achtete auf ihn. Yar-Taw zog sich langsam wieder an den Rand des Geschehens zurück, um alles von dort aus zu beobachten.
»So«, sagte Beso-Ran, ließ sich auf dem Platz nieder, wo zuvor Keribdis gesessen hatte, und aß erneut von den Beeren. »Talo-Toecan hat dich also unterwiesen. Hat er dir schon Hitzebanne beigebracht?« Sein Tonfall war jovial, und er versuchte offenbar, die Stimmung aufzulockern. »Keribdis«, schmeichelte er, »lehre doch Alissa gleich hier und jetzt einen Hitzebann, damit ich ihn nicht vor ihr verstecken muss. Ich mag meinen Tee lieber heiß.«
Alissa erkannte, dass ihre einzige Chance darin bestand, einfach über Keribdis’ Beleidigungen hinwegzugehen, und beschloss, die Frau zu ignorieren. »Das war sogar einer meiner ersten Banne«, gestand sie, und ihr Herzschlag beruhigte sich. »Talo-Toecan mag seinen Tee auch heiß. Und während unserer ersten gemeinsamen Zeit hat es viel geschneit.«
»Wie steht es mit Feldern?«, wollte Neugwin wissen. »Hat er dir …« Sie zögerte.
»Undurchlässige und durchlässige«, sprang Alissa ein, weil sie vermutete, dass Neugwin nichts verraten wollte, wovon Alissa vielleicht noch nichts wusste. Lodeshs Miene wirkte gequält, und sie fügte hinzu: »Das musste ich lernen, um am Leben zu bleiben.«
Neugwin sah Keribdis mit großen Augen an. »Das war nicht meine Frage«, sagte sie dann. »Ich wollte wissen, wie viele einzelne Felder du zugleich aufrechterhalten kannst.«
Alissa verzog das Gesicht. »Ach so. Erst fünf. Aber ich habe ja noch nicht viel Übung.«
Keribdis wirkte selbstzufrieden. »Nun, er kann dir kaum weitere Verteidigungsbanne beigebracht haben. Er kennt ja selbst kaum welche, friedliebend wie er ist.«
Der abfällige Tonfall der Frau fachte Alissas Zorn zu einer beständig schwelenden Glut an. »Ich habe einige gesehen, als Bailic versucht hat, Ese’ Nawoer seinem Willen zu unterwerfen, aber Talo-Toecan hat mich gebeten, sie nicht allein zu üben.« Sie kniff die Augen zusammen. »Also habe ich es nicht getan«, fügte sie in beinahe streitlustigem Ton hinzu.
Connen-Neute grinste. »Alissa beherrscht auch Heilungsbanne. Und sie kann einen von einem Feld umschlossenen Bann in einem weiteren verstecken. Sie kann fast alles.«
Lodesh wandte sich ab, mit hängenden Schultern, eine Hand an die Stirn gepresst. Alle verfielen in Schweigen, und Alissas Empörung schlug in Schrecken um, als die Meister einander besorgte Blicke zuwarfen. »Der Navigator schütze uns«, flüsterte Beso-Ran, und beim ängstlichen Klang seiner Stimme wurde Alissa kalt.
»Was bei den Wölfen hat er sich nur dabei gedacht?«, fuhr Keribdis auf. »Ich habe euch davor gewarnt, dass Talo-Toecans Unterrichtsmethoden gefährlich sein könnten, und dies ist der Beweis dafür. Wir hatten ganz recht damit, ihm nur die Unterweisung von Bewahrern zu erlauben. Er hat unsere Transformantin gefährlich und unberechenbar gemacht. So verhält er sich also, wenn niemand zusieht – ich würde wetten, diese wilde Schülerin, die vor einer Weile die ganze Feste in Aufruhr versetzt hat, war seine, nicht Redal-Stans.«
»Äh, das war Alissa«, sagte Connen-Neute leise.
»Was!«
Alissa ballte die Hände im Schoß. Meister traten von überallher leise zu ihnen, denn Keribdis’ Stimme zog sie an wie Honig die Wespen.
»So habe ich meine Bewusstheit wiedererlangt«, erklärte Connen-Neute. Seine Augen waren weit aufgerissen, als fürchtete er sich ebenso davor, etwas zu sagen wie zu schweigen. »Alissa hat versehentlich die Muster für den Liniensprung und
Weitere Kostenlose Bücher