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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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wärmten. Manche warfen den Freunden einen kurzen Blick zu, mit einem Rest Erinnerung an eine Welt, in der es Freunde gab, manche saßen da mit einem Hund als letztem Weggenossen.
    Auf ihrer Reise nach Marseille hatten Pjotr und Aljoscha konstatiert, daß es auch unter den Menschen sozusagen Hunde und Katzen gab: entweder der Nase nach, ohne Arg in jeder Gasse, ohne Sinn für Pfützen, neugierig auf alles und von allem angezogen, unerschrockene Durchquerer, joviale Kontaktsucher, daseinsfreudige Stöckchenbringer, in jeden Winkel einzubürgern, mit ruppigem Charme und milder Nachsicht fürdie Zuckerpüppchen. Oder aber wählerisch mit Orten, heikel und verdunkelnd, rätselhaft beeindruckbare Einzelgänger, die sich jederzeit, wo sie auch sind, noch auf einer zweiten, heimlichen Ebene befinden, stets im Traum von dem, was kommen könnte, stets gespannte Impressionisten, Seher von Atmosphäre, Hörige eines fremden Mondes. Hunde leben in einer Realität, in der sie kurz die Dinge prüfen und sich ansonsten wohl befinden. Das heißt, die Realität des Hundes ist etwas, worauf er sich verlassen kann. Katzen haben etliches an dramatischer Handlung in die Psyche verlegt, perzipieren schließlich aufmerksam ihre eigenen Hirngespinste und scheinen die Lust an der Perversion der eigenen Realität derart zu genießen, daß „Realität“ keine Konstante ist, auf die sich die Katze verläßt, sondern das, was sie konstant verläßt.
    Eine Reise nach Marseille macht zwangsläufig zum Hund, wenn man kaum noch eine Kopeke auf der Naht hat; man war am Ziel, weil es kein anderes Ziel gab als den Augenblick, der immer schon da war, während alles aufglüht und verglimmt in rasendem Wechsel: was auch kommt, es ist gut genug, um sich darin einzurichten.
    Lange her, dachte Aljoscha. Und im Bannkreis eines Menschen, der wie kein anderer Katze war, was konnte da noch übrig sein von seinem Hundsein?
    „Wer, glaubst du, kam hereingeschneit, kaum, daß ich im Abteil saß?“ fragte Pjotr, als sie die Treppen zur Metro hinabstiegen. „Alexandra!“
    „Wie!“
    „Zurück nach tausend Jahren London.“
    „Seit wann?“
    „Oh, schon seit einer Woche.“
    „Und wo ist sie jetzt?“
    „In D*** ausgestiegen. Sie war auf dem Weg zu ihrem Freund.“
    „Zu ihrem – “
    „Tja, wie es so geht… ich war schon informiert. Direkt nach ihrer Rückkehr gönnte Alexandra mir nämlich eine klärende Stunde. Danach konnte ich mir einen gemütlichen Abend machen. Gemütlicher geht nicht. Erst holte ich meine Briefmarkensammlung hervor, und dann kackte ganz unverhofft der Sittich.“
    „Alles vorbei, einfach so!“
    „Was soll man machen? War eigentlich schon von Anfang an vorbei. Sagte nicht Majakowski: Wissen ist Befreiung –?“
    „Ich glaube nicht.“
    „Jedenfalls, wir hatten ein brillantes Gespräch… wirklich, wir verstanden uns blendend. Bis sie halt da ausstieg, wo ihr Herz beschäftigt ist.“
    „Sic transit gloria mundi.“
    „Egal“
    „Immer ist es sie, die aussteigt.“
    „Sapperlot, ja!“
    „Wenn wir in Dobropol sind, verliere ich bestimmt die Nerven.“
    „Ruhig Blut, Aljoscha. Wir kommen nicht dahinter, aber wenn wir dahinterkommen, ist da ein neues Dahinter.“
    Die Metrofahrt verlief ohne weitere sublunarische Kalamitäten. Pjotr erzählte von Awdotja, die mit Büchern und mit Wissen handelte, aber selbst so gut wie gar nicht handelte; Aljoscha stellte sich Awdotja vor wie eine unbeirrbare Nachrichtensprecherin, an deren leicht mokanter Miene kein Scheinwerfer, der ihr auf den Tisch knallt, etwas ändert. Sie blieb Herrin der Lage, und Pjotr nahm’s als Knecht der Lage; seine Worte verrieten, daß es ihn danach verlangte, eine noch weitere Ferne zu überbrücken als die zu Awdotjas Wesen. Russen in der Diaspora sind ja ohnehin zerstreut, aber Antiope, oder welche Göttin hier Zustände hatte, dirigierte jetzt doch ziemlich derangiert das Dasein. Die Göttin der Russen schien noch zerstreuter als die zerstreuten Russen selbst.
    „Pariert Order! Wir sind nicht hier, um es leicht zu haben“, befahl Antiope.
    „Jawohl, Genossin Kulturministerin!“ riefen die dummen Lämmer, und Pjotr fügte hinzu: „Hätte wirklich ein Gott aus Adams Rippe sein bestes Kunststück gemacht, würde ich sagen, ich stehe ehrfürchtig und überwältigt vor dem Resultat…“ – aber das war es eben. Er hätte davorgestanden.
    In Aljoschas Zimmer holte Pjotr aus seinem Pappkoffer ein Exemplar seiner Begleitschrift zum

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